Gustave Flaubert: Frau Bovary (50)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Zwischen Eierpyramiden und Käsekörben, aus denen klebriges Stroh herausragte, lagen allerhand Eisenwaren auf dem Pflaster ausgebreitet. Neben Ackergerät gackerten Hühner in flachen Körben und steckten ihre Hälse durch die Luftlöcher. Die Menge schob sich, ohne zu weichen, gerade nach den Stellen, wo das Gedränge schon am dichtesten war. So geriet bisweilen das Schaufenster der Apotheke wirklich in Gefahr. An den Markttagen ward diese nie leer. Es standen immer eine Menge Leute darin, weniger um Arzneien zu kaufen als vielmehr um den Apotheker zu konsultieren. Herr Homais war in den benachbarten Ortschaften ein berühmter Mann. Seine rücksichtslose Sicherheit fing die Bauern. Sie hielten ihn für einen besseren Arzt als alle Doktoren im ganzen Lande.
Emma saß an ihrem Fenster, wie so oft. Das Fenster ersetzt in der Kleinstadt das Theater und den Korso. Sie belustigte sich über das wimmelnde Landvolk; da bemerkte
sie einen Herrn in einem Rock von grünem Samt, mit gelben Handschuhen; sonderbarerweise trug er dazu derbe Gamaschen. Ein Bauersknecht mit gesenktem Kopf und recht trübseliger Miene folgte ihm. Beide gingen auf das Bovarysche Haus zu.
„Ist der Herr Doktor zu sprechen?“fragte der Herr den Apothekergehilfen, der an der Haustüre mit Felicie plauderte. Er hielt ihn für den Diener des Arztes. „Melden Sie Herrn Rudolf Boulanger von der Húchette.“
Es war keineswegs Eitelkeit, daß der Ankömmling sein Gut zu seinem Namen fügte. Er wollte nur genau angeben, wer er war. Die Húchette war nämlich ein Rittergut in der Nähe von Yonville, das er samt zwei Meiereien unlängst gekauft hatte. Er bewirtschaftete es selber, jedoch ohne sich allzu sehr dabei anzustrengen. Er war Junggeselle und hatte „so mindestens seine fünfzehntausend Franken“im Jahr zu verzehren.
Karl begab sich in sein Sprechzimmer hinunter. Boulanger überwies ihm seinen Knecht, der einen Aderlaß wünsche, weil er am ganzen Körper ein Kribbeln wie von Ameisen habe.
„Das wird mich erleichtern“, wiederholte der Bursche auf alle Einwände. Bovary ließ sich nunmehr eine Leinwandbinde und eine Schüssel bringen. Er bat Justin, behilflich zu sein.
Dann wandte er sich an den Knecht, der schon ganz blaß geworden war.
„Nur keine Angst, mein Lieber!“„Ach nee, Herr Doktor, machen Sie nur los!“erwiderte er.
Dabei hielt er mit prahlerischer Gebärde seinen dicken Arm hin. Unter dem Stich der Lanzette sprang das Blut hervor und spritzte bis zum Spiegel hin.
„Die Schüssel!“rief Karl. „Donnerwetter!“meinte der Knecht. „Das ist ja der reine Springbrunnen! Und wie rot das Blut ist! Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr?“
Bei diesen Worten sank der Mann mit einem Ruck in den Sessel zurück, daß die Lehne krachte.
„Das hab ich mir gleich gedacht!“bemerkte Bovary, indem er mit den Fingern die angestochne Ader zudrückte. „Erst gehts ganz gut, dann kommt die Ohnmacht, gerade bei solchen robusten Kerlen wie der da!“
Die Schüssel in Justins Händen geriet ins Schwanken. Die Knie schlotterten ihm; er wurde leichenfahl.
„Emma! Emma!“rief der Arzt. Mit einem Satze war sie die Treppe hinunter.
„Essig!“rief ihr Karl zu. „Ach du mein Gott! Gleich zweie auf einmal!“In seiner Aufregung konnte er kaum den Verband anlegen.
„’s ist weiter nichts!“meinte Boulanger gelassen, der Justin aufgefangen hatte. Er setzte ihn auf die Tischplatte und lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Frau Bovary machte sich daran, dem Ohnmächtigen das Halstuch aufzuknüpfen. Der Knoten wollte sich nicht gleich lösen, und so berührte sie ein paar Minuten lang leise mit ihren Fingern den Hals des jungen Burschen. Dann goß sie Essig auf ihr Batisttaschentuch, betupfte ihm ein paarmal behutsam die Schläfen und blies dann ein wenig darauf. Der Knecht war bereits wieder munter, aber Justins Ohnmacht dauerte an. Seine Augäpfel verschwammen in ihrem bleichen Gallert wie blaue Blumen in Milch.
„Er darf das da nicht sehen!“ordnete Karl an. Frau Bovary ergriff die Schüssel und setzte sie unter den Tisch. Bei diesem Sichbücken bauschte sich ihr Rock (ein weiter gelber Rock mit vier Falbeln) um sie herum und stand wie steif auf der Diele, und je nach der Bewegung Emmas, die sich neigte, die Arme ausstreckte und sich dabei in den Hüften ein wenig hin und her drehte, wogte der Stoff auf und nieder. Dann nahm sie eine Wasserflasche und löste ein paar Stück Zucker in einem Glase. In diesem Augenblicke trat der Apotheker ein. Das Mädchen hatte ihn vor Schreck herbeigeholt. Als er seinen Gehilfen wieder bei Bewußtsein sah, atmete er auf. Dann ging er um ihn herum und betrachtete sich ihn von oben bis unten.
„Dummkopf!“brummte er. „Ein Dummkopf, wie er im Buche steht! Als obs wer weiß was wäre! Ein bißchen Aderlaß! Weiter nichts! Und das will ein forscher Kerl sein! Ja, wenn es gilt, von den höchsten Bäumen die Nüsse herunterzuholen, da klettert er wie ein Eichhörnchen … Na, tu deinen Mund auf und zeig dich mal in deiner Gloria! Das sind ja nette Eigenschaften für einen, der mal Apotheker werden will! Ich sage dir: als Apotheker kommt man in die schwierigsten Lagen. So zum Beispiel vor Gericht als Sachverständiger. Da heißt es kaltblütig sein, hübsch ruhig überlegen und ein ganzer Mann sein! Sonst gilt man als Schwachmatikus …“
Justin sagte kein Wort. Der Apotheker fuhr fort:
„Wer hat dir denn übrigens gesagt, daß du hierher gehen sollst? In einem fort belästigst du Herrn und Frau Doktor! Noch dazu an den Markttagen, wo du drüben so notwendig gebraucht wirst! Es warten zurzeit zwanzig Kunden im Laden. Deinetwegen habe ich alles stehn und liegen lassen. Marsch! Hinüber! Trab! Gib auf die Arzneien acht! Ich komme gleich nach!“
Als Justin seine Kleidung wieder in Ordnung gebracht hatte und fort war, plauderte man noch ein wenig über Ohnmachtanfälle. Frau Bovary sagte, sie hätte noch nie einen gehabt.
„Ja, bei Damen kommt so was sehr selten vor!“behauptete Boulanger. „Es gibt aber auch Leute, die allzu zimperlich sind. Da hab ich gelegentlich eines Duells erlebt, daß ein Zeuge ohnmächtig wurde, als die Pistolen beim Laden knackten.“
„Was mich anbelangt,“erklärte der Apotheker, „mich stört der Anblick fremden Blutes ganz und gar nicht. Aber der bloße Gedanke, ich selber könne bluten, der macht mich schwindlig, wenn ich nicht schnell an was andres denke.“
Inzwischen hatte Boulanger seinen Knecht fortgeschickt, nachdem er ihn ermahnt, sich nun zu beruhigen. »51. Fortsetzung folgt