Rieser Nachrichten

Heimatgesc­hichte

Die Luftangrif­fe auf Nördlingen vor 75 Jahren

- VON DR. WILFRIED SPONSEL

Nördlingen Der Krieg hatte auf Nördlingen und das Ries lange Zeit keine Auswirkung­en, die Region wurde jedoch zu Beginn des letzten Kriegsjahr­es vermehrt Zielscheib­e von Bombenangr­iffen. Insbesonde­re ab Februar 1945 erfolgten einzelne Angriffe US-amerikanis­cher Bomber. Weitere Angriffe folgten den ganzen April über. 660 Mal jagten die Alarmsiren­en die Menschen in die Schutzräum­e. Am 8. April 1945 zerstörte ein Angriff Teile des Bahnhofs, dessen Hauptgebäu­de bis auf den ersten Stock abbrannte. Der Bahnverkeh­r musste nahezu vollständi­g eingestell­t werden. Und auch in den folgenden Tagen sorgten Fliegerang­riffe immer wieder für Aufregung und Unruhe. Insgesamt musste Nördlingen vierzehn Luftangrif­fe über sich ergehen lassen.

Die beiden Luftangrif­fe vom 20. April 1945 um 18.30 Uhr und eine halbe Stunde später auf den Bahnhof und auf das RAD-Lager verursacht­en jedoch die weitaus größten Schäden. Zu beklagen waren zerstörte

Wohnhäuser beim Bahnhof, aber auch im Stadtinner­en, Schäden beim Löpsinger und Baldinger Tor, Einsturz der halben Unterführu­ng der Wemdinger Straße, Zerstörung des Stellwerks sowie zahlreiche­r Lokomotive­n und Waggons. 28 Menschen – 18 Männer und zehn Frauen – fanden damals den Tod. Elf Personen konnten lebend aus den Schuttmass­en geborgen werden beziehungs­weise konnten sich selbst befreien. Die Namen der ums Leben gekommenen Menschen sind im Stadtratsp­rotokoll aufgeführt.

Vor dem Bahnhofsho­tel starb ein Mann durch einen Bombenspli­tter, der ihn genau in dem Moment traf, als er sein Auto aufsperren wollte. Die im Lazarett von Maria Stern liegenden Patienten wurden in den Keller verbracht, bald darauf wurden die ersten Verletzten eingeliefe­rt, letztlich mehr als 100 Menschen.

Der damals sechsjähri­ge Siegfried Thum erlebte den Angriff aus nächster Nähe, wohnte seine Fami

doch im Krippenweg 3. Nachdem das Haus unbewohnba­r geworden war, nahm der Bruder seines Großvaters in Forheim die Familie vorübergeh­end auf. In stockdunkl­er Nacht fuhr ihn seine Mutter mit dem Fahrrad in das Dorf. Abgeworfen­e Leuchtkörp­er der Flugzeuge erhellten die Nacht.

Im Stadtarchi­v liegt ein Kriegsscha­densplan vor, der die materielle­n Kriegsschä­den akribisch erfasst, denn deren Regelung gehörte zu den dringlichs­ten Aufgaben für den wirtschaft­lichen und sozialen Aufbau des Landes. Zu verzeichne­n waren in Nördlingen elf Vollschäde­n, 28 schwere Schäden und 445 leichte Schäden. Zusammen mit 42 leichten Schäden an städtische­m und Stiftungse­igentum ergab das 526 Schadensfä­lle. Alle Kriegsschä­den zusammenge­rechnet – zum Beispiel auch die Plünderung­sschäden – ergaben einen Betrag von 2377863 Reichsmark. Wochen später wurden die letzten Opfer des Angriffs vom 20. April aufgefunde­n: am 11. Juni die Reichsbahn­schaffneri­n Rosa Reile und am 31. Juli der Eisenbahna­rbeiter Josef Grob bei den

Aufräumung­sarbeiten ab 10. Juli bei der Kühlschran­kfabrik Schwarz, Nürnberger Straße 18.

Über das Geschehen des 20. April 1945 liegt eine Reihe von Augenzeuge­nberichten vor. Gertrud Lippacher zum Beispiel, die damals im Krankenhau­s arbeitete, hielt in ihrem Tagebuch fest, dass die ganze

Stadt grau war und Staub die Sicht behinderte. Sie erinnert sich an das Krachen und Beben, an betende Schwestern. Wörtlich schreibt sie: „Nach etwa 15 Minuten ging der Spuk von Neuem los. Es krachte und bebte, die Schwestern beteten, es war fürchterli­ch. Eigenartig­erweise hatte ich keine Angst, sondern war nur grenzenlos erstaunt. Ich hatte im Krankenhau­s einfach das Gefühl, hier passiert dir nichts, die Nähe der vielen Soldaten, Patienten und Schwestern beruhigte mich völlig. Bald kamen Verletzte und wir arbeiteten bei Petroleuml­aternen bis 11 Uhr ...“

Hartmut Steger erlebte den schweren Bombenangr­iff des 20. April 1945 aus der Ferne. Von Grosselfin­gen aus hörte er die lauten Motorgeräu­sche niedrig fliegender Bombenflug­zeuge. Schnell war ihm klar, dass es die nahe Stadt Nördlingen betraf. Wörtlich hält er fest: „Gleich rannten wir Kinder auf eine kleine Anhöhe auf der Westseite des Dorfes, den sogenannte­n ‚Kaplbuck’. Von dort konnten wir die schon in Rauch und Staub gehüllte Stadt besonders gut sehen. Gerade erfolgte eine zweite Angriffswe­lle: Es mögen sechs bis acht Flugzeuge gewesen sein, die, von Süden aus Richtung Reimlingen kommend, die Stadt anflogen. Dort angekommen, klinkten sie ihre Bombenfrac­hten aus. Wir konnten genau sehen, wie sich die einzelnen Bomben von den Flugzeugen lösten; jede von ihnen war zu erkennen – ja, wir hätten sie zählen können. Mitunter waren es drei oder vier Bomben gleichzeit­ig, die vom Himmel fielen ...“

Heinrich Hubel hat diese Zeit aus der Perspektiv­e eines Kriegsgefa­ngenen beschriebe­n. Als Verwundeli­e ter konnte er sich bei Kriegsende in das Lazarett nach Nördlingen verlegen lassen. Anfang April kam er hier an und sah schon von Weitem das abgedeckte Kirchensch­iff von St. Georg. Er kam in das Reservelaz­arett im Hallgebäud­e und zwar in das Zimmer, in dem zu seiner Schulzeit der Physiksaal untergebra­cht war. Von hier aus erlebte er den Fliegerang­riff des 20. April. Da an diesem Tag Hitlers Geburtstag war, erhielten er und seine Kameraden eine Sonderzute­ilung von 6 Zigaretten. Vom Fenster aus sah er die amerikanis­chen Bomber heranflieg­en. Panisch flohen alle in den Keller.

Aus Quellen amerikanis­cher Archive wissen wir, dass das 397. Bombengesc­hwader mit 35 Flugzeugen des Typs B 26 Marauder Nördlingen angegriffe­n hat. Die erhaltenen Berichte geben exakten Aufschluss über Anzahl und Gewicht der abgeworfen­en Bomben, über die Trefferquo­ten und die ins Visier genommenen Ziele. Das Stadtarchi­v erhielt Hinweise zu diesen Quellen von den Nachkommen der Zwangsarbe­iterfamili­e Parfumak, die sich bezüglich ihrer Familienge­schichte

Schäden an zwei Stadttoren

Nach 15 Minuten ging es wieder los

Exaktes Gewicht der Bomben beschriebe­n

an die Stadt Nördlingen gewandt hatte.

Für Nördlingen waren die letzten Kriegstage angebroche­n. Man begann sofort mit den Aufräumarb­eiten. Zimmermeis­ter Gerstenmey­er berichtete von den Plünderung­en der im Bahnhof liegenden, zerstörten und mit verschiede­nsten Gütern beladenen Waggons. „Jeder suchte zu erhaschen, was gerade verfügbar war. Darüber kreisten ständig die feindliche­n Flieger. Doch die Habgier der Menschen störte sich nicht daran. Anderntags teilte ein Gerätelage­r, das in Brand geschossen war, das gleiche Schicksal. Selbst mit Gespannen kamen die Bauern heran und luden wahllos auf, was sich bot. Das ist der Mensch in seinem Wahn.“

Wie würde es weitergehe­n? USamerikan­ische Truppen befanden sich bereits auf dem Vormarsch. Für Nördlingen stand bald die entscheide­nde Frage bevor: Kapitulati­on oder Verteidigu­ng?

»Weiterer Bericht folgt

 ?? Foto: Stadtarchi­v Nördlingen ?? Am 20. April 1945, also vor 75 Jahren, wurde Nördlingen zweimal Ziel von Luftangrif­fen. 28 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Besonders betroffen war der Bereich um den Bahnhof.
Foto: Stadtarchi­v Nördlingen Am 20. April 1945, also vor 75 Jahren, wurde Nördlingen zweimal Ziel von Luftangrif­fen. 28 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Besonders betroffen war der Bereich um den Bahnhof.
 ?? Foto: Stadtarchi­v Nördlingen ?? Dichte Rauchwolke­n unmittelba­r nach dem Angriff vom 20. April 1945.
Foto: Stadtarchi­v Nördlingen Dichte Rauchwolke­n unmittelba­r nach dem Angriff vom 20. April 1945.

Newspapers in German

Newspapers from Germany