Rieser Nachrichten

Mit neuer Kraft: Fliegen wie ein Adler

- REGINE KELLERMANN ev. Pfarrerin Harburg und Schaffhaus­en

Es gibt Tage, da habe ich es satt. Da will ich meine Kinder besuchen, da will ich wieder Menschen auf der Straße treffen, miteinande­r reden und lachen. Ich will endlich wieder selber entscheide­n dürfen, wen ich treffe und wohin ich gehe. Es gibt Tage, da fühle ich mich wie gefangen in den eigenen vier Wänden. Da habe ich bei aller Vernunft und Einsicht in die Notwendigk­eiten der Situation einfach keine Lust mehr.

An einem solchen Tag habe ich den Predigttex­t gelesen, der jüngst für einen Sonntag vorgesehen war. Worte des Propheten Jesaja an das verzweifel­te Volk Israel in der babylonisc­hen Gefangensc­haft. Zugegeben, ganz so dramatisch ist meine Lage nicht. Aber trotzdem höre ich Jesaja in meine heutige Situation hinein. „Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforsc­hlich. Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“

Ich hebe meine Augen und schaue aus dem Fenster. Adler sehe ich da keine, aber eine Menge andere Vögel. Spatzen und Meisen, Dohlen und Enten, manchmal auch ein Turmfalke. Für jemanden wie mich und meinen Mann, die wir erst vor Kurzem aus der Großstadt nach Harburg gezogen sind, ist das ein wahrer Genuss. So viel Leben zwitschert vor unserem Fenster. So viel von Gottes wunderbare­r Schöpfung können wir da sehen und bestaunen.

Und dann dieses Bild: neue Kraft bekommen und fliegen wie ein Adler. Was für eine Vorstellun­g! Das Bild tut mir gut. Ich stelle mir die starken Flügel eines Adlers vor. Wie er sich in die Luft schwingt und sich von der Thermik tragen lässt. Ich stelle mir vor, ich hätte solche Flügel. Das fühlt sich stark an, lebendig, gut. Der Adler kann sich aus der Schwere der Erde erheben und hat von oben einen ganz anderen Blick auf alles.

Dieses Bild will ich mir bewahren. Es ändert nichts an der Situation. Aber es ändert meine Stimmung. Und das macht einen Unterschie­d, für den ich dankbar bin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany