Die neuen Bürgermeister und Landräte treten ihren Dienst in schwierigen Zeiten an
Am 1. Mai treten die neuen Landräte und Bürgermeister ihren Dienst an. Im Wahlkampf sprachen sie noch über Nahverkehr und Digitalisierung. Dann kamen das Virus und mit einem Schlag die größte Krise der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie damit umgehen?
Mindelheim Als der Vorgänger seinen ersten Tag hatte, spielte die hauseigene Kapelle. Die Gäste standen dicht an dicht, Hans-Joachim Weirather schüttelte sehr viele Hände, und weil er am Vortag in der alten Dienststelle lange seinen Ausstand gefeiert hatte, war die Stimme etwas angeschlagen. Dann machte er sich an die Arbeit und Stück für Stück erschloss sich die neue Welt an der Spitze eines Landkreises.
Das war 2006, und die Welt war eine andere.
Alex Eder wird den Führungskräften im Landratsamt Unterallgäu schon am 30. April als neuer Landrat vorgestellt, einen Tag vor seinem offiziellen Dienstantritt, der mit einem Feiertag zusammenfällt. Kein Händedruck, alle auf Abstand. „Es gibt nichts zu essen und nichts zu trinken“, kündigt Amtsvorgänger
Weirather an, der in dieser Runde Abschied nimmt. Am 4. Mai wird Eder vereidigt, auch da ist keine Feier geplant, und dann macht er sich an die Arbeit. Von null auf hundert zum Corona-Krisenmanager.
Es ist das Jahr 2020 und die Welt ist nicht wiederzuerkennen.
Was wird das für ein Einstieg sein für diejenigen, die bei der Kommunalwahl erstmals in ein Spitzenamt gewählt wurden und zum Monatswechsel auf ihrem neuen Bürostuhl Platz nehmen. Diesmal gibt es besonders viele Neulinge. Allein die Bürgermeister: Bayernweit war annähernd die Hälfte nicht mehr angetreten, im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung etwa ein Drittel.
In Flächennutzungspläne, Haushaltssatzung und Umweltprojekte kann man sich hineinfuchsen; umso leichter, je mehr Erfahrung aus der Verwaltung man mitbringt. Aber wie arbeitet man sich in die größte Krise der deutschen Nachkriegsgeschichte hinein?
Alex Eder ist einer von drei neuen Landräten in Schwaben. Mit satten 80 Prozent gewann er für die Freien Wähler die Stichwahl im Unterallgäu, im ersten Wahlgang hatte er nur um 14 Stimmen den sofortigen
Durchmarsch verpasst. 36 Jahre alt, Bauingenieur, verheiratet, zwei Söhne (vier und sieben), ein gebürtiger Münchner, der erst seit Anfang 2019 in Türkheim lebt und zuletzt Abteilungsleiter im Staatlichen Bauamt in Krumbach war. Kein Politiker, vielmehr ein Seiteneinsteiger.
Im Wahlkampf referierte er über Energieversorgung, öffentlichen Nahverkehr oder Digitalisierung. Lobte das Bewährte und benannte Dinge, die man besser machen könne. Sprach vor allem davon, wie man den Landkreis mit seinen 144000 Menschen und einer Arbeitslosenquote von 2,0 Prozent so lebenswert wie möglich halten kann.
Wie ist das also, Herr Eder, wenn man von heute auf morgen das Thema vor der Brust hat? Das im Wahlkampf noch kein Thema war. Bei dem es gleichzeitig um Leben und Tod, um eine lahmgelegte Wirtschaft, um wochenlang geschlossene Schulen und Kitas, um Frust und Ängste und eine unsichere finanzielle Zukunft geht?
„Die Prioritäten haben sich natürlich verschoben“, sagt Eder. Und dann: „Der Respekt ist gewaltig.“Zumal überhaupt nicht absehbar sei, welchen wirtschaftlichen Schaden die Krise hinterlassen wird. Die Steuereinnahmen brechen ein, so viel ist klar. Aber wie stark? Gleichwohl schickt Eder den Satz hinterher: „Ich habe mich nicht zum Landrat wählen lassen, um mich ins Sonnenlicht zu stellen, sondern um mein Bestes dafür zu geben, dass es den Leuten hier gut geht.“
An diesem Nachmittag hat Alex Eder zum ersten Mal der Sitzung des Krisenstabes in Mindelheim beigewohnt – als Beobachter. Lagebesprechung von (Noch-)Landrat Weirather mit Gesundheitsamt, Katastrophenschutz, Kliniken, Polizei und Rettungsdiensten. Einmal in der Woche trifft sich dieser Kreis, bei Bedarf öfter. Im Landratsamt ist sogar täglich Krisensitzung. Es ist nicht so, dass das Unterallgäu im bayernweiten Vergleich exorbitant hohe Infektionszahlen hätte. Mit 162 Corona-Fällen je 100000 Einwohner liegt der Landkreis sogar deutlich unter dem Schnitt von 297.
Und doch gibt es auch hier Tote, bislang neun, die an Covid-19 erkrankt waren. Auch hier ist Schutzausrüstung knapp und die Lage in Altenheimen angespannt. Und der Kummer groß, weil Insolvenzen drohen, die Kultur am Boden liegt und berufstätige Eltern nicht mehr wissen, wer ihre Kinder betreuen soll.
Eder hat also schon in die Führungsgruppe Katastrophenschutz hineingefühlt, die er bald selbst leiten wird. Kurz darauf sitzt er vor einem Mineralwasser in seiner künftigen Behörde in Raum 200, einem modern eingerichteten Besprechungszimmer in einem wenig modernen vierstöckigen Bau, und sagt offen: „Es entspannt nicht unbedingt, zu wissen, was vor mir liegt.“
Gleichermaßen habe er als studierter Ingenieur und in seiner bisherigen Führungsrolle gelernt, pragmatisch zu denken, sagt Eder. Viele Gespräche zu führen, auf den Rat von Fachleuten zu hören („Wie soll ich mir in ein paar Wochen das Wissen aus einem mehrjährigen Medizinstudium aneignen?“), abzuwägen, nach Möglichkeit eine gemeinsame Entscheidung zu treffen.
So gigantisch die Krise ist: Der neue Job ist ja nicht nur Corona. Landrat sein heißt auch, sich um Investitionen zu kümmern, den Denkmalschutz im Auge zu haben oder die Kfz-Zulassungsstelle. Der Tierskandal von Bad Grönenbach ist noch nicht ausgestanden. Und dann wird Alex Eder auch noch Chef von gut 400 Mitarbeitern sein.
Also führt er Vorgespräche so gut es geht. „Ich würde gerne häufiger den neuen Kollegen über die Schulter schauen“, sagt er. Aber erstens hat er an seiner alten Arbeitsstelle noch einige Dinge zu klären. Zweitens sind die Abstandsregeln einzuhalten. Schon wieder Corona. Einem Landrat eilt ja ein fast mystischer Ruf voraus. Klar, die großen Linien werden in München und Berlin gezogen, erst recht in der Corona-Krise. Aber ansonsten hat ein Landrat in seinem Kreis viel Spielraum. „Provinzfürst“wird er deshalb gerne etwas despektierlich genannt. Es ist jedenfalls ein Job mit Renommee. Hans Reichhart hat das bayerische Bau- und Verkehrsministerium aufgegeben, um Landrat in Günzburg zu werden. Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, wollte das im Oberallgäu schaffen, verlor aber überraschend in der Stichwahl.
Auch Bürgermeister waren immer angesehene Leute, wenngleich sich in jüngster Zeit Hasskommentare und Drohungen gegenüber Amtsinhabern häuften. Ein Grund für das große Stühlerücken in den Rathäusern. Anruf bei Gerhard Frey, 47, verheiratet, drei Töchter, frisch gewählter Bürgermeister von Sulzberg bei Kempten. Das Handy klingelt durch. Zehn Sekunden später eine SMS: „Ich rufe Sie zurück.“
Der Rückruf kommt erst am nächsten Morgen, weil die Sitzung am Abend zuvor bis halb elf gedauert hat. Der neue Job wirft seine Schatten voraus. „Es ist alles nicht so einfach mit der Vorbereitung“, erzählt Frey. Sich mal schnell zu treffen sei schwierig, man müsse viel mehr Termine ausmachen.
Auch in Sulzberg gab es schon Corona-Fälle. Auch über der Marktgemeinde mit ihren etwa 5000 Einwohnern schwebt das Damoklesschwert sinkender Gewerbesteuereinnahmen. „Wir werden unseren Haushalt für nächstes Jahr nicht halten können“, sagt Frey. Wie geht es weiter mit der Erweiterung des Kindergartens? Alles offene Fragen. Alles andere als ein schöner Start für einen neuen Bürgermeister. Und alles wegen Corona.
Das Virus ist, wenn man so will, schon seit Monaten Gerhard Freys täglicher Begleiter. Bei seinem bisherigen Arbeitgeber, dem Bayerischen Roten Kreuz, war er zuletzt stellvertretender Leiter des Rettungsdienstes im Kreisverband Oberallgäu und unter anderem damit beschäftigt, Schutzausrüstung zu organisieren. Auf der Suche nach Gesichtsmasken telefonierte er Zahnärzte und Handwerker ab, eine Art Klinkenputzen. Und wie war das, als alles anfing? „Nun ja“, sagt Frey, „ich bin am Tag nach dem Wahlsonntag zurück ins Büro und die Welt war eine andere.“
Seine neue Welt im Rathaus von Sulzberg wird Gerhard Frey unter
Der Vorgänger sagt: Es gibt nichts zu essen
Und wenn das Ganze doch aus dem Ruder läuft?
ganz anderen Bedingungen kennenlernen, wie er es sich bei seiner Kandidatur noch vorgestellt hat. Da geht es ihm nicht anders als Alex Eder im Landratsamt in Mindelheim. Hans-Joachim Weirather hatte auf der Suche nach einem Nachfolger im Spätsommer 2019 seinen Cousin Wilhelm gefragt, ob er nicht einen geeigneten Kandidaten kenne. Der Cousin leitet das Staatliche Bauamt in Krumbach.
So kam es, dass wenig später Landrat Weirather und Baudirektor Eder beisammensaßen. „Ich weiß noch, ich musste lachen, weil der Job des Landrats gedanklich so weit weg war“, erinnert sich Eder.
Jetzt ist er ganz nah. Zu Hause in Türkheim warten zwar erst mal Ehefrau Lisa und die Buben, dann steht noch ein Abendtermin in Mindelheim an. Aber danach sind es nur noch ein paar Tage. Und dann: Krisenmanager von null auf hundert.
Zum Schluss sagt Alex Eder noch: „Der Gedanke macht mir schon Angst, dass die Krise aus dem Ruder läuft, medizinisch oder wirtschaftlich.“Aber jetzt gehe es darum, das Beste aus der Situation zu machen. Der erste Tag als Landrat wartet. Auch wenn keine Kapelle spielt.