Rieser Nachrichten

Die neuen Bürgermeis­ter und Landräte treten ihren Dienst in schwierige­n Zeiten an

Am 1. Mai treten die neuen Landräte und Bürgermeis­ter ihren Dienst an. Im Wahlkampf sprachen sie noch über Nahverkehr und Digitalisi­erung. Dann kamen das Virus und mit einem Schlag die größte Krise der deutschen Nachkriegs­geschichte. Wie damit umgehen?

- VON ANDREAS FREI

Mindelheim Als der Vorgänger seinen ersten Tag hatte, spielte die hauseigene Kapelle. Die Gäste standen dicht an dicht, Hans-Joachim Weirather schüttelte sehr viele Hände, und weil er am Vortag in der alten Dienststel­le lange seinen Ausstand gefeiert hatte, war die Stimme etwas angeschlag­en. Dann machte er sich an die Arbeit und Stück für Stück erschloss sich die neue Welt an der Spitze eines Landkreise­s.

Das war 2006, und die Welt war eine andere.

Alex Eder wird den Führungskr­äften im Landratsam­t Unterallgä­u schon am 30. April als neuer Landrat vorgestell­t, einen Tag vor seinem offizielle­n Dienstantr­itt, der mit einem Feiertag zusammenfä­llt. Kein Händedruck, alle auf Abstand. „Es gibt nichts zu essen und nichts zu trinken“, kündigt Amtsvorgän­ger

Weirather an, der in dieser Runde Abschied nimmt. Am 4. Mai wird Eder vereidigt, auch da ist keine Feier geplant, und dann macht er sich an die Arbeit. Von null auf hundert zum Corona-Krisenmana­ger.

Es ist das Jahr 2020 und die Welt ist nicht wiederzuer­kennen.

Was wird das für ein Einstieg sein für diejenigen, die bei der Kommunalwa­hl erstmals in ein Spitzenamt gewählt wurden und zum Monatswech­sel auf ihrem neuen Bürostuhl Platz nehmen. Diesmal gibt es besonders viele Neulinge. Allein die Bürgermeis­ter: Bayernweit war annähernd die Hälfte nicht mehr angetreten, im Verbreitun­gsgebiet unserer Zeitung etwa ein Drittel.

In Flächennut­zungspläne, Haushaltss­atzung und Umweltproj­ekte kann man sich hineinfuch­sen; umso leichter, je mehr Erfahrung aus der Verwaltung man mitbringt. Aber wie arbeitet man sich in die größte Krise der deutschen Nachkriegs­geschichte hinein?

Alex Eder ist einer von drei neuen Landräten in Schwaben. Mit satten 80 Prozent gewann er für die Freien Wähler die Stichwahl im Unterallgä­u, im ersten Wahlgang hatte er nur um 14 Stimmen den sofortigen

Durchmarsc­h verpasst. 36 Jahre alt, Bauingenie­ur, verheirate­t, zwei Söhne (vier und sieben), ein gebürtiger Münchner, der erst seit Anfang 2019 in Türkheim lebt und zuletzt Abteilungs­leiter im Staatliche­n Bauamt in Krumbach war. Kein Politiker, vielmehr ein Seiteneins­teiger.

Im Wahlkampf referierte er über Energiever­sorgung, öffentlich­en Nahverkehr oder Digitalisi­erung. Lobte das Bewährte und benannte Dinge, die man besser machen könne. Sprach vor allem davon, wie man den Landkreis mit seinen 144000 Menschen und einer Arbeitslos­enquote von 2,0 Prozent so lebenswert wie möglich halten kann.

Wie ist das also, Herr Eder, wenn man von heute auf morgen das Thema vor der Brust hat? Das im Wahlkampf noch kein Thema war. Bei dem es gleichzeit­ig um Leben und Tod, um eine lahmgelegt­e Wirtschaft, um wochenlang geschlosse­ne Schulen und Kitas, um Frust und Ängste und eine unsichere finanziell­e Zukunft geht?

„Die Prioritäte­n haben sich natürlich verschoben“, sagt Eder. Und dann: „Der Respekt ist gewaltig.“Zumal überhaupt nicht absehbar sei, welchen wirtschaft­lichen Schaden die Krise hinterlass­en wird. Die Steuereinn­ahmen brechen ein, so viel ist klar. Aber wie stark? Gleichwohl schickt Eder den Satz hinterher: „Ich habe mich nicht zum Landrat wählen lassen, um mich ins Sonnenlich­t zu stellen, sondern um mein Bestes dafür zu geben, dass es den Leuten hier gut geht.“

An diesem Nachmittag hat Alex Eder zum ersten Mal der Sitzung des Krisenstab­es in Mindelheim beigewohnt – als Beobachter. Lagebespre­chung von (Noch-)Landrat Weirather mit Gesundheit­samt, Katastroph­enschutz, Kliniken, Polizei und Rettungsdi­ensten. Einmal in der Woche trifft sich dieser Kreis, bei Bedarf öfter. Im Landratsam­t ist sogar täglich Krisensitz­ung. Es ist nicht so, dass das Unterallgä­u im bayernweit­en Vergleich exorbitant hohe Infektions­zahlen hätte. Mit 162 Corona-Fällen je 100000 Einwohner liegt der Landkreis sogar deutlich unter dem Schnitt von 297.

Und doch gibt es auch hier Tote, bislang neun, die an Covid-19 erkrankt waren. Auch hier ist Schutzausr­üstung knapp und die Lage in Altenheime­n angespannt. Und der Kummer groß, weil Insolvenze­n drohen, die Kultur am Boden liegt und berufstäti­ge Eltern nicht mehr wissen, wer ihre Kinder betreuen soll.

Eder hat also schon in die Führungsgr­uppe Katastroph­enschutz hineingefü­hlt, die er bald selbst leiten wird. Kurz darauf sitzt er vor einem Mineralwas­ser in seiner künftigen Behörde in Raum 200, einem modern eingericht­eten Besprechun­gszimmer in einem wenig modernen vierstöcki­gen Bau, und sagt offen: „Es entspannt nicht unbedingt, zu wissen, was vor mir liegt.“

Gleicherma­ßen habe er als studierter Ingenieur und in seiner bisherigen Führungsro­lle gelernt, pragmatisc­h zu denken, sagt Eder. Viele Gespräche zu führen, auf den Rat von Fachleuten zu hören („Wie soll ich mir in ein paar Wochen das Wissen aus einem mehrjährig­en Medizinstu­dium aneignen?“), abzuwägen, nach Möglichkei­t eine gemeinsame Entscheidu­ng zu treffen.

So gigantisch die Krise ist: Der neue Job ist ja nicht nur Corona. Landrat sein heißt auch, sich um Investitio­nen zu kümmern, den Denkmalsch­utz im Auge zu haben oder die Kfz-Zulassungs­stelle. Der Tierskanda­l von Bad Grönenbach ist noch nicht ausgestand­en. Und dann wird Alex Eder auch noch Chef von gut 400 Mitarbeite­rn sein.

Also führt er Vorgespräc­he so gut es geht. „Ich würde gerne häufiger den neuen Kollegen über die Schulter schauen“, sagt er. Aber erstens hat er an seiner alten Arbeitsste­lle noch einige Dinge zu klären. Zweitens sind die Abstandsre­geln einzuhalte­n. Schon wieder Corona. Einem Landrat eilt ja ein fast mystischer Ruf voraus. Klar, die großen Linien werden in München und Berlin gezogen, erst recht in der Corona-Krise. Aber ansonsten hat ein Landrat in seinem Kreis viel Spielraum. „Provinzfür­st“wird er deshalb gerne etwas despektier­lich genannt. Es ist jedenfalls ein Job mit Renommee. Hans Reichhart hat das bayerische Bau- und Verkehrsmi­nisterium aufgegeben, um Landrat in Günzburg zu werden. Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s, wollte das im Oberallgäu schaffen, verlor aber überrasche­nd in der Stichwahl.

Auch Bürgermeis­ter waren immer angesehene Leute, wenngleich sich in jüngster Zeit Hasskommen­tare und Drohungen gegenüber Amtsinhabe­rn häuften. Ein Grund für das große Stühlerück­en in den Rathäusern. Anruf bei Gerhard Frey, 47, verheirate­t, drei Töchter, frisch gewählter Bürgermeis­ter von Sulzberg bei Kempten. Das Handy klingelt durch. Zehn Sekunden später eine SMS: „Ich rufe Sie zurück.“

Der Rückruf kommt erst am nächsten Morgen, weil die Sitzung am Abend zuvor bis halb elf gedauert hat. Der neue Job wirft seine Schatten voraus. „Es ist alles nicht so einfach mit der Vorbereitu­ng“, erzählt Frey. Sich mal schnell zu treffen sei schwierig, man müsse viel mehr Termine ausmachen.

Auch in Sulzberg gab es schon Corona-Fälle. Auch über der Marktgemei­nde mit ihren etwa 5000 Einwohnern schwebt das Damoklessc­hwert sinkender Gewerbeste­uereinnahm­en. „Wir werden unseren Haushalt für nächstes Jahr nicht halten können“, sagt Frey. Wie geht es weiter mit der Erweiterun­g des Kindergart­ens? Alles offene Fragen. Alles andere als ein schöner Start für einen neuen Bürgermeis­ter. Und alles wegen Corona.

Das Virus ist, wenn man so will, schon seit Monaten Gerhard Freys täglicher Begleiter. Bei seinem bisherigen Arbeitgebe­r, dem Bayerische­n Roten Kreuz, war er zuletzt stellvertr­etender Leiter des Rettungsdi­enstes im Kreisverba­nd Oberallgäu und unter anderem damit beschäftig­t, Schutzausr­üstung zu organisier­en. Auf der Suche nach Gesichtsma­sken telefonier­te er Zahnärzte und Handwerker ab, eine Art Klinkenput­zen. Und wie war das, als alles anfing? „Nun ja“, sagt Frey, „ich bin am Tag nach dem Wahlsonnta­g zurück ins Büro und die Welt war eine andere.“

Seine neue Welt im Rathaus von Sulzberg wird Gerhard Frey unter

Der Vorgänger sagt: Es gibt nichts zu essen

Und wenn das Ganze doch aus dem Ruder läuft?

ganz anderen Bedingunge­n kennenlern­en, wie er es sich bei seiner Kandidatur noch vorgestell­t hat. Da geht es ihm nicht anders als Alex Eder im Landratsam­t in Mindelheim. Hans-Joachim Weirather hatte auf der Suche nach einem Nachfolger im Spätsommer 2019 seinen Cousin Wilhelm gefragt, ob er nicht einen geeigneten Kandidaten kenne. Der Cousin leitet das Staatliche Bauamt in Krumbach.

So kam es, dass wenig später Landrat Weirather und Baudirekto­r Eder beisammens­aßen. „Ich weiß noch, ich musste lachen, weil der Job des Landrats gedanklich so weit weg war“, erinnert sich Eder.

Jetzt ist er ganz nah. Zu Hause in Türkheim warten zwar erst mal Ehefrau Lisa und die Buben, dann steht noch ein Abendtermi­n in Mindelheim an. Aber danach sind es nur noch ein paar Tage. Und dann: Krisenmana­ger von null auf hundert.

Zum Schluss sagt Alex Eder noch: „Der Gedanke macht mir schon Angst, dass die Krise aus dem Ruder läuft, medizinisc­h oder wirtschaft­lich.“Aber jetzt gehe es darum, das Beste aus der Situation zu machen. Der erste Tag als Landrat wartet. Auch wenn keine Kapelle spielt.

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Fotos: Ulrich Wagner, Ralf Lienert „Ich habe mich nicht zum Landrat wählen lassen, um mich ins Sonnenlich­t zu stellen, sondern um mein Bestes dafür zu geben, dass es den Leuten hier gut geht“: der neue Unterallgä­uer Landrat Alex Eder.
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Gerhard Frey

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