Rieser Nachrichten

Erreicht Schweden als erstes Land Herdenimmu­nität?

Der lockere Kurs der schwedisch­en Regierung in der Corona-Krise zeigt Wirkung: Einerseits ist die Zahl der Toten verhältnis­mäßig hoch, anderersei­ts könnten viele Bewohner schon immun sein. Mediziner schlagen dennoch Alarm

- VON ANDRÉ ANWAR

Stockholm In Stockholm ist es seit einigen Tagen ähnlich sonnig wie in Berlin, Hamburg oder München. Und doch gibt es einen Unterschie­d: Am Wochenende waren Straßencaf­és und Parks in der schwedisch­en Hauptstadt gut gefüllt mit Besuchern – etwas, von dem man in anderen europäisch­en Metropolen wie London, Paris und Madrid derzeit nur träumen kann. Trotz der Ansteckung­sgefahr mit dem Coronaviru­s genießen die Schweden deutlich mehr Freizügigk­eit.

Der schwedisch­e Sonderweg in der Corona-Krise hat in mehreren Ländern Verwirrung ausgelöst. Vielerorts und nicht zuletzt bei den Nachbarn in Dänemark und Norwegen fragt man sich, ob die Schweden wissentlic­h und offenen Auges in die Katastroph­e laufen – oder sich ihre Strategie am Ende auszahlen wird.

Anders als in den anderen skandinavi­schen Ländern und in weiten Teilen Europas greift die schwedisch­e Regierung nicht mit äußerst strikten Maßnahmen wie der Schließung von Schulen und Restaurant­s in den Alltag ein. Den Menschen wird lediglich ans Herz gelegt, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind. Cafés und Lokale, Friseure, Einkaufsze­ntren und Fitnessstu­dios sind weiter geöffnet. Auch in den Kindergärt­en und Grundschul­en bis zur neunten Klasse herrscht reger Betrieb.

Dass das soziale Leben – zumindest bei den Jungen – weiter floriert, hat seinen Preis. In Schweden wurden weitaus mehr Infizierte mit dem Coronaviru­s registrier­t als in den anderen nordischen Ländern, bis Dienstag starben 1765 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher rund 370 Todesfälle, in Norwegen rund 180. Beide Länder haben jeweils halb so viele Einwohner wie Schweden.

Anderersei­ts könnte Schweden das erste Land sein, das Herdenimmu­nität erreicht. Das heißt, die Verbreitun­g des Virus wird gestoppt, weil immer mehr Menschen dagegen immun sind – sei es, weil sie die Krankheit überwunden haben oder geimpft wurden. Eine am Dienstag veröffentl­ichte Studie vom schwedisch­en Gesundheit­samt weist erstmals darauf hin, dass rund ein Drittel aller Stockholme­r, also rund 600 000 Menschen, schon bis zum 1. Mai irgendwann mit dem Coronaviru­s angesteckt worden sind und dadurch Immunität erlangt haben. Die Studie basiert sowohl auf mathematis­chen Modellieru­ngen als auch auf 700 zufällig ausgewählt­en Stockholme­rn, die getestet wurden. Auch die Zahl der täglichen neuen Erkrankung­sfälle spielt in der Berechnung eine Rolle.

Auch eine zweite Studie der Universitä­t Stockholm kommt zum Ergebnis, dass rund 30 Prozent aller Stockholme­r bald immun sind, weil sie das Virus schon einmal in sich hatten. Zum Vergleich: In Frankreich, wo eine harte Verbots- und Isolierung­sstrategie gilt, werden bis zum 11. Mai voraussich­tlich nur sechs Prozent der Bevölkerun­g schon angesteckt und immun sein. Dies ergab eine am Wochenanfa­ng veröffentl­ichte französisc­he Studie vom renommiert­en Institut Pasteur.

Die Sicht, dass der schwedisch­e Sonderweg richtig ist, teilen in dem Land bei weitem nicht alle. Knapp 2000 Wissenscha­ftler haben die schwedisch­e Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgeforde­rt. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiolo­gie von Lungenerkr­ankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahle­n für inakzeptab­el und den Preis, den Schweden im CoronaKamp­f bezahlt, für zu hoch. „Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend“, sagt er. „Die

Richtlinie­n sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt.“

Dass die Kneipen und Einkaufsze­ntren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. „Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeys­piel: Schweden gegen den Rest der Welt.“Dabei würden täglich Hunderte neue Ansteckung­en registrier­t. Lundbäck fordert deshalb die Schließung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheim­en. „Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm.“An Staatsepid­emiologe Anders Tegnell prallt die Kritik ab. Er geht davon aus, dass Schweden sich in einer anderen Phase als seine Nachbarn befinde und deshalb höhere Zahlen habe.

Unklar ist weiter, wohin der Weg der Schweden führen soll: Wenn Herdenimmu­nität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten – anders als etwa Deutschlan­d oder die Nachbarn in Norwegen – einer zweiten Viruswelle entkommen. Für den Lungenspez­ialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. „Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität“, sagt er. „Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikament­e zur Verfügung haben.“

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Foto: Ali Lorestani, dpa Trotz der Corona-Pandemie gelten in Schweden kaum Ausgangsbe­schränkung­en – ein Sonderweg, der umstritten ist.

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