Die Schwierigkeit der Einfachheit
Über 20 Millionen Menschen in Deutschland können nicht gut lesen. Literatur ist für sie schwer oder gar nicht zugänglich. Aber lässt sich das einfach so ändern? Ein Gewinn an Lesern ohne Verlust für die Kunst?
Ich sitze in einem Bus.
Der Bus fährt durch Russland.
Ich sehe aus dem Fenster.
Es ist Frühling. Traktoren pflügen die Felder.
An den Bäumen wachsen die ersten Blätter.
Die Vögel bauen Nester.
Die Menschen lächeln.
Auch ich lächle.
Der Bus ist alt. Mein Sitz ist schief.
So beginnt eine der Geschichten in diesem Buch, wie es keines zuvor gegeben hat. Mit einfachen Sätzen für ein klares Ziel: Erstmals haben namhafte deutsche Autoren extra Geschichten geschrieben, um damit ein Publikum zu erreichen, das ihnen ansonsten verschlossen bleibt. Denn über 20 Millionen Menschen können in Deutschland nicht gut genug lesen, dass sie literarische Texte verstünden. Das ist knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung, das sind zehn Millionen weniger als überhaupt Menschen hierzulande, die Bücher kaufen. Eine riesige Chance also, neue Leser zu gewinnen? Das wäre doch eine schöne Nachricht zum heutigen Welttag des Buches, hinein in eine Zeit, in der in Bayern die Buchläden noch immer geschlossen sind.
Die Debatte um Einfache Sprache wird jedenfalls schon länger geführt, allerdings meist mit dem Fokus auf Texte, die eigentlich jeder verstehen muss: über Gesetze, Rechte und Pflichten. Hauke Hückstädt jedoch findet: „Alle haben ein Recht auf Kunst und Literatur.“Der ist sozusagen Anstifter zu dieser nun erschienenen Neuheit. Schon längere Zeit jedenfalls gibt es vereinfachte Klassiker, mit den Abenteuern des Tom Sawyer etwa oder der Geschichte von Romeo und Julia. Ein bisschen so, wie viele Menschen „Moby Dick“und „Don Quichotte“zum ersten Mal gelesen haben – nicht in den ausschweifenden Originallängen, sondern in aufs Wesentliche und Spannende verkürzten Jugendversionen.
Hauke Hückstädt als Leiter des Frankfurter Literaturhauses war es ein Anliegen, dass auch das Schaffen zeitgenössischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zugänglich wird. Darum startete er eine Veranstaltungsserie mit dem Titel „Lies!“, als deren Ergebnis es nun auch über Frankfurt hinaus für alle zur Serie „Das Buch“gibt. Extra in einfacher
Sprache geschriebene Texte wie jener zur Beginn von Jens Mühling – insgesamt sind es 15, darunter auch solche von Literaturstars wie Arno Geiger, Judith Hermann und Olga Grjasnowa. Die Autoren selbst waren es, die sich dafür erst mal darauf einigen mussten, was das eigentlich ausmacht: Einfachheit. Denn gibt es nicht ohnehin große Literatur, die gar nicht kompliziert geschrieben ist? Albert Camus’ großartiger Debütroman „Der Fremde“etwa beginnt so:
Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: „Mutter verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.“Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.
Und doch ist da ein großer Unterschied zu Mühlings „Meine Reise um das Schwarze Meer“. Bloß eine Frage der Qualität? Die Regeln der Einfache-Sprache-Autoren jedenfalls sind im Wesentlichen diese: „Wir schreiben einfache Sätze. Wenn wir Sprachbilder verwenden, erläutern wir diese. Wir vermeiden Zeitsprünge. Wir erzählen aus nur einer Perspektive. Wir gliedern unser Textbild anschaulich. Möglichst wenige Hauptwörter! Möglichst viele Verben!“Da würde Camus bereits hier manche Hürde reißen: Textbild und eindeutige Zeit, im Verlauf noch weitere. Aber andersrum gefragt: Ist auch mit diesen Regeln eindrucksvolle Literatur zu schreiben? Initiator Hückstädt jedenfalls schwärmt: „Durch Literatur in Einfacher Sprache finden sogar diejenigen zu Aha-Erlebnissen, die schon immer viel gelesen haben. Man staunt darüber, wie viel mehr weniger sein kann.“Auch die Autorinnen und Autoren hätten in der Beschränkung letztlich einen besonderen Reiz entdeckt.
Die Ergebnisse im Buch aber zeugen meist von etwas anderem: einer deutlich geschrumpften Bandbreite an Stilen und Tönen im Erzählen nämlich. Ja natürlich, es gibt da die starken Stimmen, denen auch ohne Beschränkung eine eigene Klarheit innewohnt und die auch hier ihren unverwechselbaren Sound entwickeln. Judith Hermann etwa gelingen in „Falle“unverändert wunderbar trocken rätselhafte Bilder, als sich eine Frau plötzlich dem Werben eines Artisten für seine ZersägeNummer ausgesetzt sieht. Und im vielleicht besten Text des Bandes, „Ich verlasse dich“, beweist Julia Schoch, wie viel wichtiger bei der formalen Beschränkung eine starke Idee und die Kühle des Tons sind, in der sie die Gedanken einer Frau zu ihrer Ehe fasst. Ihr Beginn:
Es ist ganz einfach:
Ich verlasse dich.
Morgen gehe ich weg. Weg von dir. Das bedeutet, ich gehe weg von uns. Es klingt sehr einfach. Aber ich habe viele Fragen.
Was passiert mit unserer Geschichte, wenn ich gehe?
Wer wird sich um unsere Geschichte kümmern, wenn es uns als Paar nicht mehr gibt?
Ich finde, unsere Geschichte ist wie ein Kind.
Wir tragen die Verantwortung für sie.
Die meisten anderen Geschichten dieses Bandes – auch die des sonst so zuverlässig starken Arno Geiger, „Hunger“– leiden dagegen unter einer elementaren Schwäche im Beschreiben. Hier in ihren Möglichkeiten beschnitten, kippen die Geschichten allzu oft ins Märchen- und Fabelhafte – und damit genau dorthin, wohin sie nicht sollten. Denn eine der Gründungslegenden dieses literarischen Versuchs ist die Reaktion von Eltern eines erwachsenen Sohnes mit Downsyndrom, die auf die Frage nach passenden Büchern immer auf Kinder- und Jugendliteratur verwiesen wurden – sich hier, in der Einfachen Sprache, aber endlich am Ziel wähnten. Wirklich? Bloß Olga Grjasnowa gelingt in „Das Kofferradio von Guiseppe Bruno“immerhin eine Art Wendung des Märchentons in struwwelpeterbizarre Erwachsenheit.
Jederzeit aber lässt sich dieses Buch als spannende Studie lesen über das, was Literatur eigentlich ausmacht. Woran es liegt, dass Bücher ganze Welten öffnen können und weit mehr leisten, als bloß Wirklichkeit abzubilden. Wie sehr es daran liegt, dass der Blick des Autors nicht durch das Gesehene, das Erdachte und also Beschriebene definiert ist, sondern durch das Schöpferische des Sehens selbst, das hier die Kraft der Sprache hat. Die Literatur in Einfacher Sprache ist darum fürs sonst verlorene Publikum ein wichtiges Unterfangen – aber für die Autoren geradezu ein neues, sehr herausforderndes Genre. Denn im simpel Beschriebenen steckt – das beweist manches andere Genre, der Arzt-Roman lässt grüßen – oft auch nur: das Simple selbst. Insofern sind Impulse wie dieses Buch kulturell notwendig, wenn auch künstlerisch schwierig. Aber vor allem wäre es ein Wunder, wenn der Versuch mehr als ehrenwert, aber chancenlos bliebe gegen die tendenziell immer noch mehr zunehmende Übermacht der stufenlos zugänglichen digitalen Unterhaltungswelten …
» Hauke Hückstädt (Herausgeber): Lies! Das Buch – Literatur in Einfacher Sprache. Mit Geschichten unter anderem von Arno Geiger, Judith Hermann und Olga Grjasnowa. Piper, 288 S., 18 ¤