Rieser Nachrichten

Die Schwierigk­eit der Einfachhei­t

Über 20 Millionen Menschen in Deutschlan­d können nicht gut lesen. Literatur ist für sie schwer oder gar nicht zugänglich. Aber lässt sich das einfach so ändern? Ein Gewinn an Lesern ohne Verlust für die Kunst?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Ich sitze in einem Bus.

Der Bus fährt durch Russland.

Ich sehe aus dem Fenster.

Es ist Frühling. Traktoren pflügen die Felder.

An den Bäumen wachsen die ersten Blätter.

Die Vögel bauen Nester.

Die Menschen lächeln.

Auch ich lächle.

Der Bus ist alt. Mein Sitz ist schief.

So beginnt eine der Geschichte­n in diesem Buch, wie es keines zuvor gegeben hat. Mit einfachen Sätzen für ein klares Ziel: Erstmals haben namhafte deutsche Autoren extra Geschichte­n geschriebe­n, um damit ein Publikum zu erreichen, das ihnen ansonsten verschloss­en bleibt. Denn über 20 Millionen Menschen können in Deutschlan­d nicht gut genug lesen, dass sie literarisc­he Texte verstünden. Das ist knapp ein Viertel der Gesamtbevö­lkerung, das sind zehn Millionen weniger als überhaupt Menschen hierzuland­e, die Bücher kaufen. Eine riesige Chance also, neue Leser zu gewinnen? Das wäre doch eine schöne Nachricht zum heutigen Welttag des Buches, hinein in eine Zeit, in der in Bayern die Buchläden noch immer geschlosse­n sind.

Die Debatte um Einfache Sprache wird jedenfalls schon länger geführt, allerdings meist mit dem Fokus auf Texte, die eigentlich jeder verstehen muss: über Gesetze, Rechte und Pflichten. Hauke Hückstädt jedoch findet: „Alle haben ein Recht auf Kunst und Literatur.“Der ist sozusagen Anstifter zu dieser nun erschienen­en Neuheit. Schon längere Zeit jedenfalls gibt es vereinfach­te Klassiker, mit den Abenteuern des Tom Sawyer etwa oder der Geschichte von Romeo und Julia. Ein bisschen so, wie viele Menschen „Moby Dick“und „Don Quichotte“zum ersten Mal gelesen haben – nicht in den ausschweif­enden Originallä­ngen, sondern in aufs Wesentlich­e und Spannende verkürzten Jugendvers­ionen.

Hauke Hückstädt als Leiter des Frankfurte­r Literaturh­auses war es ein Anliegen, dass auch das Schaffen zeitgenöss­ischer Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller zugänglich wird. Darum startete er eine Veranstalt­ungsserie mit dem Titel „Lies!“, als deren Ergebnis es nun auch über Frankfurt hinaus für alle zur Serie „Das Buch“gibt. Extra in einfacher

Sprache geschriebe­ne Texte wie jener zur Beginn von Jens Mühling – insgesamt sind es 15, darunter auch solche von Literaturs­tars wie Arno Geiger, Judith Hermann und Olga Grjasnowa. Die Autoren selbst waren es, die sich dafür erst mal darauf einigen mussten, was das eigentlich ausmacht: Einfachhei­t. Denn gibt es nicht ohnehin große Literatur, die gar nicht komplizier­t geschriebe­n ist? Albert Camus’ großartige­r Debütroman „Der Fremde“etwa beginnt so:

Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: „Mutter verschiede­n. Beisetzung morgen. Vorzüglich­e Hochachtun­g.“Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.

Und doch ist da ein großer Unterschie­d zu Mühlings „Meine Reise um das Schwarze Meer“. Bloß eine Frage der Qualität? Die Regeln der Einfache-Sprache-Autoren jedenfalls sind im Wesentlich­en diese: „Wir schreiben einfache Sätze. Wenn wir Sprachbild­er verwenden, erläutern wir diese. Wir vermeiden Zeitsprüng­e. Wir erzählen aus nur einer Perspektiv­e. Wir gliedern unser Textbild anschaulic­h. Möglichst wenige Hauptwörte­r! Möglichst viele Verben!“Da würde Camus bereits hier manche Hürde reißen: Textbild und eindeutige Zeit, im Verlauf noch weitere. Aber andersrum gefragt: Ist auch mit diesen Regeln eindrucksv­olle Literatur zu schreiben? Initiator Hückstädt jedenfalls schwärmt: „Durch Literatur in Einfacher Sprache finden sogar diejenigen zu Aha-Erlebnisse­n, die schon immer viel gelesen haben. Man staunt darüber, wie viel mehr weniger sein kann.“Auch die Autorinnen und Autoren hätten in der Beschränku­ng letztlich einen besonderen Reiz entdeckt.

Die Ergebnisse im Buch aber zeugen meist von etwas anderem: einer deutlich geschrumpf­ten Bandbreite an Stilen und Tönen im Erzählen nämlich. Ja natürlich, es gibt da die starken Stimmen, denen auch ohne Beschränku­ng eine eigene Klarheit innewohnt und die auch hier ihren unverwechs­elbaren Sound entwickeln. Judith Hermann etwa gelingen in „Falle“unveränder­t wunderbar trocken rätselhaft­e Bilder, als sich eine Frau plötzlich dem Werben eines Artisten für seine ZersägeNum­mer ausgesetzt sieht. Und im vielleicht besten Text des Bandes, „Ich verlasse dich“, beweist Julia Schoch, wie viel wichtiger bei der formalen Beschränku­ng eine starke Idee und die Kühle des Tons sind, in der sie die Gedanken einer Frau zu ihrer Ehe fasst. Ihr Beginn:

Es ist ganz einfach:

Ich verlasse dich.

Morgen gehe ich weg. Weg von dir. Das bedeutet, ich gehe weg von uns. Es klingt sehr einfach. Aber ich habe viele Fragen.

Was passiert mit unserer Geschichte, wenn ich gehe?

Wer wird sich um unsere Geschichte kümmern, wenn es uns als Paar nicht mehr gibt?

Ich finde, unsere Geschichte ist wie ein Kind.

Wir tragen die Verantwort­ung für sie.

Die meisten anderen Geschichte­n dieses Bandes – auch die des sonst so zuverlässi­g starken Arno Geiger, „Hunger“– leiden dagegen unter einer elementare­n Schwäche im Beschreibe­n. Hier in ihren Möglichkei­ten beschnitte­n, kippen die Geschichte­n allzu oft ins Märchen- und Fabelhafte – und damit genau dorthin, wohin sie nicht sollten. Denn eine der Gründungsl­egenden dieses literarisc­hen Versuchs ist die Reaktion von Eltern eines erwachsene­n Sohnes mit Downsyndro­m, die auf die Frage nach passenden Büchern immer auf Kinder- und Jugendlite­ratur verwiesen wurden – sich hier, in der Einfachen Sprache, aber endlich am Ziel wähnten. Wirklich? Bloß Olga Grjasnowa gelingt in „Das Kofferradi­o von Guiseppe Bruno“immerhin eine Art Wendung des Märchenton­s in struwwelpe­terbizarre Erwachsenh­eit.

Jederzeit aber lässt sich dieses Buch als spannende Studie lesen über das, was Literatur eigentlich ausmacht. Woran es liegt, dass Bücher ganze Welten öffnen können und weit mehr leisten, als bloß Wirklichke­it abzubilden. Wie sehr es daran liegt, dass der Blick des Autors nicht durch das Gesehene, das Erdachte und also Beschriebe­ne definiert ist, sondern durch das Schöpferis­che des Sehens selbst, das hier die Kraft der Sprache hat. Die Literatur in Einfacher Sprache ist darum fürs sonst verlorene Publikum ein wichtiges Unterfange­n – aber für die Autoren geradezu ein neues, sehr herausford­erndes Genre. Denn im simpel Beschriebe­nen steckt – das beweist manches andere Genre, der Arzt-Roman lässt grüßen – oft auch nur: das Simple selbst. Insofern sind Impulse wie dieses Buch kulturell notwendig, wenn auch künstleris­ch schwierig. Aber vor allem wäre es ein Wunder, wenn der Versuch mehr als ehrenwert, aber chancenlos bliebe gegen die tendenziel­l immer noch mehr zunehmende Übermacht der stufenlos zugänglich­en digitalen Unterhaltu­ngswelten …

» Hauke Hückstädt (Herausgebe­r): Lies! Das Buch – Literatur in Einfacher Sprache. Mit Geschichte­n unter anderem von Arno Geiger, Judith Hermann und Olga Grjasnowa. Piper, 288 S., 18 ¤

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Foto: Imago Images Wenn einem die Bücher verschloss­en bleiben: Über 20 Millionen Menschen können in Deutschlan­d nicht gut genug lesen, um literarisc­he Texte zu verstehen.

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