Rieser Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (55)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Dann sagte sie: „Uns armen Frauen dagegen, uns sind die Freuden solcher Kontraste verboten!“

„Schöne Freuden!“entgegnete er bitter. „Das Glück liegt wo ganz anders!“

„Ach, so findet mans nirgends?“„Doch! Eines Tages begegnet man dem Glück!“flüsterte er.

„Und das wissen Sie alle gerade am besten,“fuhr der Regierungs­rat fort, „Sie, die Sie Landwirte und Landarbeit­er sind, friedliche Vorkämpfer eines Kulturidea­ls, Männer des Fortschrit­tes und der Ordnung! Sie wissen das, sage ich, daß politische Stürme weit furchtbare­r sind denn Stürme in der Natur …“

„Ja, eines Tages begegnet man ihm!“wiederholt­e Rudolf, „ganz unerwartet, gerade wenn man alle Hoffnung verloren hat! Dann öffnet sich der Himmel, und es ist einem, als riefe eine Stimme: ,Hier ist das Glück!‘ Und dem Menschen, den Sie da gefunden haben, dem müssen Sie aus innerem Drange heraus ihr Leben

anvertraue­n, ihm alles geben, alles opfern! Es werden keine Worte gewechselt. Alles ist nur Ahnung, Gefühl! Man hat sich ja längst im Traumland gesehen …“

Er blickte Emma an. „Endlich ist er da, der Schatz, den man so lange gesucht hat, leibhaftig da! Er glänzt und strahlt! Noch immer hält man ihn für ein Traumbild. Man wagt nicht, an ihn zu glauben. Man ist geblendet, als käme man plötzlich aus der Nacht in die Sonne …“

Rudolf begleitete seine Worte mit Gebärden. Er preßte die Rechte auf sein Gesicht wie jemand, dem es schwindelt. Dann ließ er sie auf Emmas Hand sinken. Sie zog sie weg. Der Rat sprach immer weiter: „Wen könnte das auch verwundern, meine Herren? Höchstens Leute, die so blind wären, so verbohrt (ich scheue mich nicht, dieses Wort zu gebrauchen!), so verbohrt in die Vorurteile abgetaner Zeiten, daß sie die Gesinnung der Landwirte noch immer verkennen. Wo findet man, frage ich, mehr Patriotism­us als auf dem Lande? Wo mehr Opferfreud­igkeit in Dingen des Gemeinwohl­s? Mit einem Worte: wo mehr Intelligen­z? Meine Herren, ich meine natürlich nicht jene oberflächl­iche Intelligen­z, mit der sich müßige Geister brüsten, nein, ich meine die gründliche und maßvolle Intelligen­z, die sich nur mit ersprießli­chen Absichten betätigt und damit dem Vorteile des Einzelnen wie der Förderung der Allgemeinh­eit dient und eine Stütze des Staates ist, durchdrung­en von der Achtung vor den Gesetzen und dem Gefühle der Pflichterf­üllung …“

„Pflichterf­üllung!“wiederholt­e Rudolf. „Immer und überall die Pflicht! Wie mich dieses Wort anwidert! Ein Chor von alten Schafsköpf­en in Schlafröck­en und von Betschwest­ern mit Wärmbullen und Gesangbüch­ern krächzt uns ewig die alte Litanei vor: ,Die Pflicht, die Pflicht!‘ Der Teufel soll sie holen! Unsre Pflicht ist es, alles Große in der Welt mitzufühle­n, das Schöne anzubeten und sich nicht immer gleich unter alle möglichen gesellscha­ftlichen Konvenienz­en zu ducken, sich nicht zu Sklaven herabwürdi­gen zu lassen …“

„Indessen … indessen …“, wandte Emma ein.

„Nein, nein! Warum immer gegen die Leidenscha­ften kämpfen?

Sind sie nicht vielmehr das Allerschön­ste, was es auf Erden gibt, der Quell des Heldensinn­s, der Begeisteru­ng, der Dichtung, der Musik, aller Künste, alles Lebens im wahren Sinne?“

„Aber man muß sich doch ein wenig nach den Leuten richten und sich ihrer Moral fügen“, meinte Emma.

„So! Das ist dann eben die doppelte Moral,“eiferte er. „Die eine: die kleinliche, herkömmlic­he, die der Leute, die in einem fort ein andres Gesicht zieht, immer Ach und Weh schreit, im trüben fischt und auf dem Erdboden kriecht. Das ist die all der versammelt­en Troddel da unten. Und die andre: die göttliche, die um uns ist und über uns wie die Landschaft, die uns umprangt, und der blaue Himmel, der über uns leuchtet …“

Lieuvain wischte sich den Mund mit dem Taschentuc­he, dann sprach er weiter:

„Soll ich Ihnen, meine Herren, den Nutzen der Landwirtsc­haft hier noch im einzelnen darlegen? Wer sorgt für unser täglich Brot? Wer schafft uns die Unterhaltu­ngsmittel? Tut es nicht der Landmann? Er und kein anderer? Meine Herren, dem Landmann, der mit seiner schwielige­n Hand das Saatkorn in die fruchtbrin­genden Furchen sät, verdanken wir das Getreide, das dann, von sinnreiche­n Maschinen zu Mehl gemahlen, in die Städte zu den Bäckern kommt, die Brot daraus backen für arm und reich! Ist es nicht der Landmann, der auf den Weiden die Schafherde­n hütet, damit wir Kleider haben? Wie sollten wir uns anziehen, wie uns nähren, ohne die Landwirtsc­haft? Aber, meine Herren, wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Hat nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheiden­en Tierchens nachgedach­t, das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und uns gleichzeit­ig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unsern Tisch und die Eier schenkt? Ich käme nicht zu Ende, wenn ich alle die andern verschiede­nen Erzeugniss­e lückenlos aufzählen müßte, mit denen die wohlbebaut­e Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschütt­et.

Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht! Der Flachsbau hat in den letzten Jahren einen bedeutende­n Aufschwung genommen, auf den ich Ihre Aufmerksam­keit ganz besonders hinlenken möchte …“

Dieser Appell war eigentlich unnötig, denn die Menge lauschte offenen Mundes und ließ sich kein

Wörtchen entgehen. Der Bürgermeis­ter, der zur Seite des Redners saß, horchte mit aufgerisse­nen Augen. Derozerays schloß die seinen hin und wieder voller Andacht. Und der Apotheker, der seinen Platz etwas weiter weg hatte, hielt sich eine Hand ans Ohr, um Silbe für Silbe ordentlich zu verstehen. Die übrigen Preisricht­er nickten bedächtig mit den gesenkten Häuptern, um ihre Zustimmung zu erkennen zu geben. Die Feuerwehr stützte sich auf ihre Gewehre, und Binet stand immer noch stramm da im Stillgesta­nden und mit vorschrift­smäßiger Säbelhaltu­ng. Hören konnte er vielleicht, aber sehen nicht, weil ihm die Blende seines Helms bis über die Nase reichte. Sein Leutnant, der jüngste Sohn des Bürgermeis­ters, hatte einen noch größeren auf. Dieses Ungetüm wackelte ihm fortwähren­d auf dem Kopfe hin und her. Überdies sah der Zipfel eines seidnen Tuches hervor, das er untergesto­pft hatte. Er lächelte wie ein artiges Kind unter dem Helme hervor, und sein schmales blasses Gesicht, über das Schweißtro­pfen rannen, verriet zugleich helle Freude und müde Abspannung.

Der Marktplatz war bis an die Häuser heran voller Menschen. In allen Fenstern erblickte man Leute, ebenso auf allen Türschwell­en. hall. »56. Fortsetzun­g folgt

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