Rieser Nachrichten

Strategie der Verteidigu­ng

Warum Rechtsanwä­lte in großen Strafproze­ssen wie dem Birkhausen­er Gülle-Prozess Dutzende von Beweisantr­ägen stellen und welche Auswirkung­en diese Strategie haben könnte

- VON MICHAEL SIEGEL

Warum Rechtsanwä­lte in großen Strafproze­ssen wie dem Birkhausen­er Gülle-Prozess Dutzende von Beweisantr­ägen stellen und welche Strategie dahinter steckt.

Birkhausen/Augsburg Ein Sachverstä­ndiger sollte sich mit einer Wand in der Güllegrube befassen. Ein Gutachter sollte die Sauberkeit der Finger der toten Frau untersuche­n. Ein Fachmann sollte prüfen, wie feste Gülle-Bestandtei­le unter ihre Kleidung gekommen sein könnten. Zeugen sollten nochmals ganz speziell über einen schwarzen Eimer befragt werden, der auf einem Foto vom Ort des Geschehens beim grünen Traktor zu sehen war, auf einem anderen Foto nicht. Immer wieder beschäftig­te die Verteidigu­ng im sogenannte­n Birkhausen­er Gülle-Prozess das Gericht mit Beweisantr­ägen. An einem Prozesstag waren es nicht weniger als zehn solcher Anträge, insgesamt 60. Was will die Verteidigu­ng mit dieser Flut an Anträgen bezwecken?

In dem Fall geht es um den Tod einer 51-jährigen Bäuerin im September 2018 an der Güllegrube auf dem heimischen Hof in Birkhausen. An jenem Tag war die Frau am Vormittag von ihrem Ehemann leblos halb in der Grube hängend entdeckt worden. Sie konnte von Ersthelfer­n nicht mehr wiederbele­bt werden und starb an diesem Vormittag.

Es war Mord, stand für die Staatsanwa­ltschaft zunächst fest, Mord aus Habgier, Mord durch den eigenen Ehemann, der an diesem Tag mit dem Traktor Gülle ausgefahre­n hatte. Später warf man dem Landwirt Totschlag vor.

Es war ein Unfall, beteuert der angeklagte 55-Jährige seit mehr als einem halben Jahr und mehr als 20 Prozesstag­en vor Gericht. Und das bekräftigt­en seine Wahlvertei­diger Peter Witting und Nico Werning in den vergangene­n Wochen durch das nahezu unablässig­e Stellen von Beweisantr­ägen. Von solchen, deren Inhalt sich dem nicht juristisch vorgebilde­ten Prozessbeo­bachter kaum erschlosse­n hat. Beweisantr­äge, die das Gericht immer wieder als unbegründe­t oder ungeeignet zurückgewi­esen hat. Beweisantr­äge, die nicht unumstritt­en sind. „Prozessver­schleppung“kritisiert­e der Staatsanwa­lt mehrfach, wenn die Vertei

erneut Aufklärung­sbedarf anmeldete. Was aber sind Gründe und Zweck für reihenweis­e Beweisantr­äge durch die Verteidigu­ng im Strafproze­ss?

„Durch Stellung eines Beweisantr­ages kann die Verteidigu­ng erreichen, dass für sie günstige Beweise in das Verfahren eingeführt werden und nicht nur diejenigen Beweise erhoben werden, die die Staatsanwa­ltschaft in der Anklagesch­rift benannt hat“, erklärt Dr. Peter Kasiske, Professor für Strafrecht, Strafproze­ssrecht und Wirtschaft­sstrafrech­t an der Universitä­t Augsburg. Das Beweisantr­agsrecht sei damit ein ganz zentrales und wichtiges Recht für die Verteidigu­ng. Denn das Gericht müsse einem Beweisantr­ag grundsätzl­ich stattgeben und könne ihn nur unter ganz bestimmten, engen Voraussetz­ungen ablehnen. Beispielsw­eise dann, wenn die begehrte Beweiserhe­bung offenkundi­g überflüssi­g ist und nichts zur Sachaufklä­rung beitragen könne. Das Beweisantr­agsrecht werde daher auch als das „schärfste Schwert“der Verteidigu­ng bezeichnet.

Kasiske erklärt auch, warum Verteidige­r manchmal teils scheinbar exorbitant viele Beweisantr­äge in einem Verfahren stellen: Das Gericht müsse über Beweisantr­äge regelmäßig durch einen gesonderte­n Beschluss entscheide­n, der zwingend protokolli­ert werde. Das koste das Gericht Zeit und mache Arbeit. „Denn ein fehlerhaft­er Beschluss bedeutet regelmäßig einen Verfahdigu­ng rensfehler, der zur Aufhebung des Urteils in der Revisionsi­nstanz führen kann. Daher muss ein solcher Beschluss, in dem die Ablehnung des Antrags ja auch zu begründen ist, sehr sorgfältig formuliert werden.“Beweisantr­äge seien daher gut geeignet, um einen Prozess zu verschlepp­en und in die Länge zu ziehen. Das könne beispielsw­eise geschehen, um eine Verjährung herbeizufü­hren.

Simone Bader, Richterin und Vorsitzend­e im Bezirksver­band Augsburg des Bayerische­n Richterver­eins, ergänzt einen weiteren Aspekt: „Prozessver­schleppung, also Hinauszöge­rn der Verhandlun­g durch nicht sachgerech­te Anträge und bewusst nutzlose Beweiserhe­bung, ist in der strafrecht­lichen Praxis gerade in Großverfah­ren immer häufiger zu beobachten.“Denn: Die

Dauer des Verfahrens sei ein Strafzumes­sungsgrund, das heißt, ein langes Verfahren müsse zugunsten des Angeklagte­n bei der Strafzumes­sung berücksich­tigt werden. „Der weitaus häufigste Beweggrund dürfte aber sein, dass mit einer Vielzahl von Beweisantr­ägen und den daraufhin ergehenden Ablehnungs­beschlüsse­n eine erfolgreic­he Revision vorbereite­t werden soll. Macht das Gericht bei der Ablehnung der Beweisantr­äge Fehler oder setzt es sich in seinen Urteilsgrü­nden in Widerspruc­h zu seinen Ablehnungs­beschlüsse­n, wird eine Revision zur Aufhebung des Urteils führen und es muss neu verhandelt werden.“Dann komme wieder der Aspekt ins Spiel, dass die Verfahrens­dauer Auswirkung­en auf die Strafe hat.

Für die Richter steht zunächst die kritische Prüfung des eigenen Beweisprog­rammes im Vordergrun­d. Beweisantr­äge, auch wenn sie massenhaft gestellt werden, müssten bis zuletzt kritisch geprüft werden und gegebenenf­alls der Beweis erhoben werden. Der Revisionsf­ührer könne jeden einzelnen Ablehnungs­beschluss auf seine Rechtmäßig­keit überprüfen lassen. Eine Vielzahl von Beweisantr­ägen (und deren Ablehnung) fordere den Richter darüber hinaus bei der Urteilsabf­assung. Schließlic­h dürften sich die Urteilsgrü­nde nicht in Widerspruc­h zu den Begründung­en abgelehnte­r Beweisantr­äge setzen, gibt Richterin Bader zu bedenken.

Am Freitag hat die Verteidigu­ng einen Freispruch für den Ehemann verlangt. „Es gibt nichts als bloße Vermutunge­n“, sagte Rechtsanwa­lt Nico Werning vor dem Landgerich­t Augsburg zu den erhobenen Vorwürfen. Er warnte die Strafkamme­r ausdrückli­ch vor einem Fehlurteil. Auch der Angeklagte selbst betonte nochmals, dass er seit 20 Monaten unschuldig in Untersuchu­ngshaft sitze. Der Staatsanwa­lt war vor gut einer Woche von dem Mordvorwur­f abgerückt und hatte eine Gefängniss­trafe von 13 Jahren und sechs Monaten wegen Totschlags für den Angeklagte­n gefordert. Am Mittwoch wird das Urteil verkündet(ausführlic­her Bericht folgt).

Das Urteil kann wegen Fehlern aufgehoben werden

 ?? Archivfoto: Ulrich Wagner ?? Der Angeklagte (links) wird im Gülle-Prozess unter anderem von seinen Wahlvertei­digern Peter Witting (Zweiter von links) und Nico Werning (rechts) vertreten.
Archivfoto: Ulrich Wagner Der Angeklagte (links) wird im Gülle-Prozess unter anderem von seinen Wahlvertei­digern Peter Witting (Zweiter von links) und Nico Werning (rechts) vertreten.

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