Rieser Nachrichten

Werden Jüngere zu stark belastet?

Die Kosten für die Bewältigun­g der Corona-Krise sind riesig. Trotzdem sollen die Renten steigen. Experten kritisiere­n Arbeitsmin­ister Heil und fordern mehr Generation­en-Gerechtigk­eit

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Die Corona-Pandemie schickt die Wirtschaft auf eine beispiello­se Talfahrt – Millionen Menschen haben durch Kurzarbeit oder gar Jobverlust weniger Geld in der Tasche. Müssen nicht auch Rentner die Lasten der Krise mittragen? Wirtschaft­swissensch­aftler jedenfalls fürchten, dass die Bewältigun­g der Pandemiefo­lgen einseitig den Jüngeren aufgebürde­t wird. Gegenüber unserer Redaktion kritisiert „Rentenpaps­t“Bert Rürup, dass Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) bereits vor zwei Jahren den sogenannte­n „Nachholfak­tor“bei der gesetzlich­en Rente ausgesetzt hat – weitgehend an der Öffentlich­keit vorbei. Durch diesen Eingriff ins Rentensyst­em droht laut Rürup einer der wichtigste­n Grundsätze des Rentensyst­ems verletzt zu werden.

Der Berater mehrerer Regierunge­n erklärt: „Seit der Einführung unserer Dynamische­n Rente im Jahr 1957 folgen die Renten den Löhnen.“Dazu gehöre es, dass Renten zeitverset­zt auch sinken können, wenn die Löhne zurückgehe­n. Anfang 2009 habe der damalige Sozialmini­ster Olaf Scholz (SPD) in Erwartung von Lohnkürzun­gen die „Rentengara­ntie“eingeführt. Renten sollen demnach unveränder­t bleiben, auch wenn es zu Lohnsenkun­gen gekommen ist. „Allerdings führte er als Korrektiv den Nachholfak­tor ein“, sagt Rürup. „Der sollte dafür sorgen, dass, wenn sich die Wirtschaft nach einer Krise wieder erholt hat und auch die Löhne wieder steigen, die Rentenerhö­hungen dann nur halb so hoch wie die Entgeltzuw­ächse ausfallen sollen, wie nach der Rentenanpa­ssungsform­el vorgesehen.“Und zwar so lange, wie die unterblieb­ene Rentenkürz­ung ausgeglich­en ist. Nun habe sich herausgest­ellt, dass Heil den Nachholfak­tor bei der Rentenrefo­rm 2018 abgeschaff­t hat – ohne dass dies der Öffentlich­keit bekannt geworden wäre. Zur Finanzieru­ng dieses dauerhaft höheren Rentennive­aus sei, wenn der Beitragssa­tz seine Obergrenze von 20 Prozent erreicht hat, eine Ausweitung des Bundeszusc­husses erforderli­ch. Rürup: „Der Nachholfak­tor ist so etwas wie ein siamesisch­er Zwilling der Rentengara­ntie. Ohne ihn wird das Prinzip der Lohnbezoge­nheit verletzt – und das vor dem Hintergrun­d des in etwa fünf Jahren mit Sicherheit einsetzend­en und gut 20 Jahre anhaltende­n Alterungss­chubs der Bevölkerun­g.“

Der Finanzwiss­enschaftle­r Bernd Raffelhüsc­hen plädiert sogar dafür, die für Juli dieses Jahres geplante Rentenerhö­hung wegen der Corona-Krise einzufrier­en. Denn andernfall­s müssten nur die von Kurzarbeit, Arbeitslos­igkeit und stagnieren­den Löhnen betroffene­n Erwerbstät­igen die Last tragen. Auch das Institut der deutschen Wirtschaft fordert, Rentner stärker an den Krisenfolg­en zu beteiligen.

In der Bundesregi­erung ist die Reaktion auf die Kritik der Finanzwiss­enschaftle­r verhalten. Kanzlerin Angela Merkel hatte angekündig­t, die Frage des „Nachholfak­tors“zu prüfen. Die Bundesregi­erung stehe zur Rentengara­ntie.

Doch es ist längst nicht der einzige Rentenstre­it, mit dem sie sich befassen muss. Im Bundestag hat am Freitag die Beratung um die Grundrente begonnen, die die SPD der

Union in den Koalitions­verhandlun­gen abgerungen hatte – doch es knirscht gewaltig. Aus der Union und von Arbeitgebe­rseite waren zuletzt Forderunge­n gekommen, das Projekt auf Eis zu legen. In der Union sind einige der Meinung, dafür fehle jetzt das Geld angesichts der Milliarden­ausgaben für Rettungsma­ßnahmen in der Corona-Krise. Hessens Ministerpr­äsident Volker Bouffier etwa sagte: „Ich würde alles auf den Prüfstand stellen, was nicht jetzt zwingend nötig ist. Dazu gehört auch die Grundrente.“

Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil wies die Kritik des Koalitions­partners im Bundestag scharf zurück. Die Wirtschaft­shilfen in der Corona-Krise seien richtig, um Arbeitsplä­tze zu sichern. „Doch dieselben Interessen­vertreter, die keine Grenze kennen, Milliarden vom Steuerzahl­er zu wollen, gönnen anderen die Grundrente nicht“, sagte er. Es gehe um eine ordentlich­e Rente für Pflegehelf­er, Paketboten, Lastwagenf­ahrer oder Friseure. Diese „Corona-Helden“hätten mehr verdient als nur Worte der Anerkennun­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany