Rieser Nachrichten

Richter ohne Recht?

In Brüssel versucht man, den Erschütter­ungen nach dem Urteil zu den Anleihekäu­fen der EZB Herr zu werden

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Dieser Fall ist einmalig: Nur wenige Tage nach dem Urteilsspr­uch des Bundesverf­assungsger­ichtes zum Staatsanle­ihen-Aufkauf der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) rüffelte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen die Karlsruher Entscheidu­ng. „Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäisch­e Gerichtsho­f in Luxemburg“, schrieb sie in einer Mitteilung ihres Hauses und kündigte an, gegen Deutschlan­d ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren einzuleite­n. Die Heftigkeit ihrer Reaktion und die plötzliche Stille seither zeigen nach Ansicht eines hohen Brüsseler EU-Diplomaten: „Ein paar Tage hat es gedauert, bis alle verstanden haben, welche Sprengkraf­t in dem Richterspr­uch steckt.“

Es gehe um den Fortbestan­d des Euro-Raums, möglicherw­eise sogar der gesamten Europäisch­en Union. Das beginnt schon bei der Aufforderu­ng des Karlsruher Gerichtes, die Anleihekäu­fe der EZB „nachvollzi­ehbar“zu begründen. Aus dem 110 Seiten umfassende­n Urteil geht hervor, was damit gemeint ist: So habe die EZB nicht genug geprüft, welche unerwünsch­ten Nebenwirku­ngen wie sinkende Sparzinsen, steigende Wohnungspr­eise oder Verluste bei Altersvors­orge-Versicheru­ngen ihre Aktion habe. Außerdem fehle eine Ausstiegss­trategie. Mit anderen Worten: Die Frankfurte­r Bank hätte aufzeigen müssen, wie man langfristi­g wieder die Bestände an Staatsanle­ihen zurückführ­t. Das klingt machbar, einige glaubten schon, die Zentralban­k brauche höchstens fünf Minuten, um die entspreche­nden Ausführung­en ins Internet zu stellen. Doch so einfach wird es nicht.

Denn diese Vorgabe berührt die Unabhängig­keit der EZB, die in den Verträgen festgelegt ist. Lediglich die Begründung für das Programm zu veröffentl­ichen reicht nicht, sie muss ja auch geprüft werden. Doch wer soll das tun: Bundesregi­erung und Bundesbank? Allein die Vorstellun­g, die Bundesbank unter Umständen zur Prüfinstan­z über die EZB zu stellen, kratzt am Bestand des Euro-Raums. Hinzu komme, so argumentie­ren die Brüsseler Währungshü­ter, dass die Verhältnis­mäßigkeit schwer zu begründen ist – noch komplizier­ter dürfte es bei dem neuen Programm sein, das die EZB zur Unterstütz­ung in der Coronaviru­s-Krise aufgelegt hat. Wer kann schon am Beginn einer Pandemie sagen, ob die Hilfen angebracht oder unverhältn­ismäßig sind?

Das Kernproble­m sehen die Kritiker Karlsruhes aber in der offensicht­lichen Rüge für den Europäisch­en Gerichtsho­f. Die EZB untersteht nämlich nicht den nationalen Verfassung­sgerichten, sondern allein dem EuGH. Der hatte die Aufkäufe der Staatspapi­ere in einem eigenen Spruch als durch das Mandat der EZB gedeckt beurteilt. Karlsruhe nannte die Entscheidu­ng jetzt rüde „willkürlic­h“. Im Urteil findet sich dafür der für Juristen zentrale Begriff „ultra vires“. EuGH und Euro-Bank hätten „außerhalb ihrer Zuständigk­eit“gehandelt. Es gehe um eine „besonders gravierend­e Kompetenzv­erletzung der europäisch­en Institutio­nen“, verteidigt­e

Verfassung­sgerichtsp­räsident Andreas Voßkuhle, dessen Amtszeit am Freitag auslief, die Entscheidu­ng seines Senats. Dahinter steckt die Auffassung, die Europäisch­e Union sei eben kein Staat und deshalb dürften die EU und ihre Organe nur tun, wozu sie von den Mitgliedst­aaten ermächtigt wurden. Voßkuhle hatte diese Sicht von der EU bereits in mehreren Urteilen zum Grundsatz gemacht. Spätestens an diesem Punkt witterte EU-Kommission­spräsident­in von der Leyen zu Recht Zündstoff für die Gemeinscha­ft. Denn die ohnehin wegen ihrer Verstöße gegen Rechtsstaa­tlichkeit und demokratis­che Werte umstritten­en Staaten Polen und Ungarn können damit ihren Ungehorsam gegen Urteile aus Luxemburg begründen. „Dass sich Karlsruhe gegen den EuGH stellt und die Autorität des Europarech­ts untergräbt, ist langfristi­g ein schwerer Fehler“, sagt der CSU-Politiker und Fraktionsc­hef der Christdemo­kraten im EUParlamen­t, Manfred Weber.

Wie richtig er liegt, zeigte ein Zitat des polnischen Vize-Außenminis­ters Sebastian Kaleta: „Das deutsche Verfassung­sgericht hat nichts anderes gesagt, als dass die EU so viel darf, wie ihr die Mitgliedst­aaten gestatten.“Für Warschau, Budapest und andere wäre diese Rechtsauff­assung ein Freibrief, EuGHEntsch­eidungen noch mehr als bisher zu ignorieren.

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Foto: dpa Die EZB steht nach dem Urteil des Verfassung­sgerichts unter Druck.

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