Rieser Nachrichten

Wie schaffen wir eine gerechtere Welt nach Corona?

Gerd Müller erlebt als Entwicklun­gsminister Armut und Ungerechti­gkeit hautnah. Er fordert in seinem neuen Buch: Wir alle müssen umdenken

- VON GERD MÜLLER

Berlin In einer Welt grenzenlos­er Mobilität braucht es für eine friedliche und gerechte Zukunft eine neue Verantwort­ungsethik und einen Paradigmen­wechsel bei Wachstum und Konsum. Dazu ruft Entwicklun­gsminister Gerd Müller auf. Seit 2013 leitet er das Ministeriu­m, das sich für die Schwächste­n in dieser Welt einsetzt. Die Folgen des Coronaviru­s könnten den Graben zwischen Arm und Reich noch weiter vertiefen. „Umdenken“hat Müller daher sein Buch überschrie­ben, das in der kommenden Woche erscheint. Exklusiv in unserer Zeitung lesen Sie einen Vorabdruck daraus:

Wir wissen vieles von dem, was zu tun wäre, um die Schöpfung zu erhalten, die Erde und das Klima zu schützen, und auch, um die Flüchtling­sproblemat­ik zu lösen und die Bevölkerun­gsexplosio­n in Afrika zu stoppen. Wir alle müssen vom Reden und Kritisiere­n zum konkreten Handeln kommen, und dabei kann und sollte jeder seinen Beitrag leisten. Es ist möglich, eine Welt ohne Hunger, ein Leben und Wirtschaft­en in Frieden und im Einklang mit der Natur zu erreichen. Dies ist ein Aufruf, mitzumache­n, die Welt gerechter, nachhaltig­er und friedliche­r zu gestalten.

Als Entwicklun­gsminister habe ich das Privileg, den Zustand der Welt aus nächster Nähe erleben zu können. Ich habe den Klimawande­l mit eigenen Augen beobachten können, zum Beispiel in der Sahelregio­n in Afrika. In den fürchterli­chsten Flüchtling­slagern dieser Welt habe ich viele Menschen sterben sehen und Hunger, Not und Elend erlebt. In diesen Flüchtling­slagern habe ich aber auch gelernt, dass man mit täglich 50 Cent ein Leben retten kann und dass diese Hilfe wirkt.

Ich kenne die Wirklichke­it. Wenn ich Kinderarbe­it auf Kakaoplant­agen thematisie­re, dann habe ich mir selbst ein Bild von dieser Schufterei in Westafrika gemacht. Wenn ich den Einsturz der Textilfabr­ik 2013 in Rana Plaza (Bangladesc­h) kritisiere, dann habe ich mir die Missstände dort angeschaut. Das furchtbare Unglück mit mehr als 1100 Toten und die Gespräche mit Überlebend­en waren für mich der Anlass, das Textilbünd­nis und schließlic­h auch den Grünen Knopf als Siegel für faire Kleidung ins Leben zu rufen.

Denn wir können und müssen die Zustände in den globalen Lieferkett­en ändern. Es geht nicht an, dass in

Textilfabr­iken, Kaffeeplan­tagen, Gold- und Coltanmine­n Kinder für unsere Produkte arbeiten und Menschenre­chte für sie nicht gelten. Ich freue mich, dass ich jetzt auch in meinem Land Unterstütz­ung bekomme, dies zu ändern, wenngleich die Widerständ­e nach wie vor gewaltig sind.

Ich stamme aus einer Bauernfami­lie in Schwaben. Dort bin ich mit drei Geschwiste­rn aufgewachs­en. Im Sommer haben alle bei der Landarbeit mitgeholfe­n, auch bei den Nachbarn, wenn es notwendig war. Ich habe den größten Respekt vor dem Arbeitspen­sum, das meine Mutter und mein Vater auf dem Hof bewältigt haben. Deswegen vermeide ich heute das Wort Stress.

Wenn ich ein Vorbild habe, dann ist es mein Vater. Neben seiner Arbeit auf dem Feld und im Stall hat er sich sozial engagiert, als Kirchenpfl­eger

und Kommunalpo­litiker. Er hat für etwas gestanden, er hat dafür gekämpft und sich nicht verbiegen lassen. Das war auch mein Einstieg in die Politik, der mich bis heute prägt und mich mit den Menschen in meinem Dorf verbindet. Sie haben mich mit 21 Jahren in den Gemeindera­t und zum zweiten Bürgermeis­ter gewählt. Gemeinsam haben wir etwas bewegt und das Gefühl der Ohnmacht besiegt, nichts verändern zu können. Es reicht eben nicht aus, nur zu demonstrie­ren und zu kritisiere­n, man muss sich der Verantwort­ung stellen, handeln und gestalten, im Kleinen und im Großen. Fridays for Future zeigt, dass nicht nur unsere Kinder besorgt sind. Jetzt gilt es, Besorgnis und Protest in konkretes Handeln und zu politische­n Ergebnisse­n zu führen. Es geht um nicht weniger als die Bewahrung und den Erhalt der Schöpfung für unsere Kinder und Enkel.

Wir leben heute in einer Welt, die sich immer schneller dreht. Als ich geboren wurde, gab es gut 2,5 Milliarden Menschen auf dem Globus. Bald werden es acht Milliarden sein. Jeden Tag wächst die Weltbevölk­erung um knapp 230000 Menschen. Das sind 80 Millionen Menschen im Jahr, einmal Deutschlan­d, davon zwei Drittel in Afrika. Wir leben heute in einem globalen Dorf. Niemand kann sich heute der Globalisie­rung entziehen. Wenn wir in der Früh die Haare waschen, benutzen wir ein Shampoo, das Palmöl aus Indonesien enthält. Haben Sie schon einmal darüber nachgedach­t, dass die Regenwälde­r dort auch für unser Haarwaschm­ittel brennen? Und das Hemd, die Jeans, das T-Shirt – egal welches Kleidungss­tück wir nach dem Duschen anziehen, stammt mit hoher Wahrschein­lichkeit aus Bangladesc­h, Äthiopien oder Myanmar. Die Schuhe schließlic­h kommen aus Vietnam, aus China, aus der ganzen Welt. Nur nicht aus Deutschlan­d, hier gibt es nämlich so gut wie keine Schuhprodu­ktion mehr.

Zu den hässlichen Gesichtern, die die Globalisie­rung hat, gehört auch das des Krieges. Von uns aus gesehen sind der Irak, Iran oder Syrien sehr weit entfernt. Für Mittelstre­ckenrakete­n aber beträgt die Flugdauer von dort bis nach Berlin nur 20 Minuten. Wir dürfen Kriegen und dem Einsatz von schrecklic­hen Waffen nicht nur mit Presseerkl­ärungen begegnen. Der Frieden in Deutschlan­d, den wir seit 75 Jahren genießen, wurde und wird durch das Nato-Bündnis gewährleis­tet. Frieden sollte aber auch den Menschen in den anderen Teilen der Welt dauerhaft gewährt sein.

Es gibt neue Gefahren, die unsere Sicherheit im Land bedrohen. So werden Firmen und die öffentlich­e Infrastruk­tur im Internet von Kriminelle­n und Terroriste­n angegriffe­n, wie zum Beispiel ein Kreiskrank­enhaus in Deutschlan­d – den Ort darf ich hier nicht nennen –, dessen Energiever­sorgung und IT-System komplett lahmgelegt wurden. Was das bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Energie und Wasservers­orgung, Entsorgung­ssysteme, Bahnhöfe und Flughäfen sind täglich Ziele von Cyberangri­ffen. Das ist die Kehrseite der Digitalisi­erung. Deshalb brauchen wir ein europaweit koordinier­tes Cyberabweh­rsystem.

Eine andere Qualität von Bedrohung stellt der Klimawande­l dar. Der Himmel gehört allen. Er kennt keine Grenzen: nicht zwischen Deutschlan­d und Frankreich, auch nicht zwischen Europa und Afrika. Klimagase aus China belasten die Atmosphäre ebenso wie diejenigen aus Indien. Heißt, es kann nur eine internatio­nale Antwort auf den Klimawande­l geben – oder es wird keine ausreichen­de Antwort auf diese Schicksals­frage der Menschheit geben. Auch vor der gewaltigen Dimension dieser Aufgabe ist Verzagtden heit falsch. Leadership und entschloss­enes, mutiges Handeln in Europa sind notwendig.

Unsere nationalen Klimaziele sind selbstvers­tändlich ein wichtiger Beitrag zum globalen Klimaschut­z. Entscheide­nd jedoch für das Weltklima ist, was in den Schwellen- und Entwicklun­gsländern passieren wird, denn dort drohen in den nächsten Jahrzehnte­n massive Emissionss­teigerunge­n. Genau dort brauchen wir deshalb gewaltige Technologi­esprünge, die von einer Wirtschaft­spartnersc­haft und einer Investitio­nsoffensiv­e begleitet werden müssen. Nur dann ist eine globale Energiewen­de möglich, die erst die unterschie­dlichen Klimaschut­zbemühunge­n erfolgreic­h werden lässt. Ein neuer Ansatz muss die Gewinnung von Solarenerg­ie in der Sahara und die Produktion von grünem Wasserstof­f, Methanol und klimaneutr­alen synthetisc­hen Kraftstoff­en sein. Auch hier gilt: Jeder kann und muss sich einbringen.

Seit dem 1. Januar 2020 ist das BMZ (Bundesmini­sterium für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g) klimaneutr­al. Wir handeln entschloss­en und zeigen, dass die Umstellung gelingen kann. Alle deutschen Ministerie­n, Behörden und Betriebe, alle Kommunen in Deutschlan­d können und sollten diesen Weg gehen. Das Gleiche gilt für Kirchen und Verbände und für jeden Einzelnen. Das Thema Klimaschut­z wird nicht in zwei oder drei Jahren erledigt sein – es wird uns noch über Jahrzehnte begleiten. Schließlic­h geht es um eine Schicksals­frage der Menschheit. Ich habe den Klimaschut­z in Afrika auch zum Schwerpunk­tthema der deutschen Entwicklun­gszusammen­arbeit gemacht, denn dort bewirkt jeder zum Schutz des Klimas ausgegeben­e Euro ein Vielfaches von dem, was ein Euro für Maßnahmen in Deutschlan­d oder Europa bewirken kann.

Ein Scheitern in der Klimafrage bedeutet zugleich, die Frage von Krieg und Frieden aufzuwerfe­n – das wird viel zu oft vergessen. Schon heute verlieren Millionen von Menschen in den Dürregebie­ten Afrikas ihre Lebensgrun­dlage und kämpfen ums Überleben. Unser Wohlstand hängt davon ab, dass wir die ökologisch­en Systeme – das Klima, die Wälder, die Ozeane – als Grundlage unserer Zivilisati­on intakt halten. Für unsere Bananen, Mangos oder den Kaffee nutzen wir Landressou­rcen in Südamerika und unsere Wirtschaft braucht Basisrohst­offe wie Coltan oder Kobalt aus Afrika. Ohne sie funktionie­rt kein Smartphone, kein Computer. Und woher soll das Lithium für Millionen von Elektrofah­rzeugen kommen? Stellen wir uns einen Augenblick vor, Afrika würde in einen Ressourcen­streik treten – die Bänder der Autoindust­rie stünden still, bei VW in Wolfsburg ebenso wie bei BMW in München. Kein Auto, kein Computer kann ohne die Rohstoffe Afrikas produziert werden. Eine neue Partnersch­aft mit Afrika ist für Europa also Chance und Herausford­erung zugleich.

Die Herausford­erungen, die vor uns liegen, sind enorm. Mit der Agenda 2030, den sogenannte­n Sustainabl­e Developmen­t Goals (SDG), hat sich die Welt einen Weltzukunf­tsvertrag gegeben, den wir entschloss­en umsetzen müssen. Der SDG-Katalog ist die Agenda der Weltgemein­schaft für den Weg in eine nachhaltig­e Zukunft. Aber einen Katalog aufzuliste­n ist eine Sache, ihn erfolgreic­h umzusetzen eine ganz andere.

Wichtig ist in jedem Fall, dass man sich nicht resigniert ins Private zurückzieh­t, vielleicht sogar begleitet von dem Gedanken „Nach mir die Sintflut“. Es kommt vielmehr darauf an, dass so viele Menschen wie möglich erste Schritte in die richtige Richtung tun, denn wir sind auch die erste Generation, die mit ihrem Wissen und neuen, nachhaltig­en Technologi­en Antworten und Lösungen für die Herausford­erungen besitzt, um die Vielfalt und den Reichtum der Natur auf der Erde für kommende Generation­en zu erhalten. Wir müssen weg von der Negativitä­t und hin zu neuem Mut, mit viel Tatkraft und Optimismus uns den Herausford­erungen stellen und Veränderun­g im Denken und Handeln bewirken.

„Es reicht nicht aus, nur zu demonstrie­ren und zu kritisiere­n, man muss sich der Verantwort­ung stellen, handeln und gestalten.“Gerd Müller, Entwicklun­gsminister

„Ein Scheitern in der Klimafrage bedeutet zugleich, die Frage von Krieg und Frieden aufzuwerfe­n – das wird viel zu oft vergessen.“Gerd Müller, Entwicklun­gsminister

» Umdenken. Überlebens­fragen der Menschheit.

Gerd Müller, 200 Seiten, ISBN 978-3-86774-649-6 Erscheint am 19. Mai, Murmann-Verlag

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Foto: Ute Grabowsky imago Entwicklun­gsminister Gerd Müller im Flüchtling­scamp Nguenyyiel in Äthiopien.
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