Rieser Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (74)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Um sie greifbarer vor sich zu haben, suchte er aus dem Schranke, der am Kopfende seines Bettes stand, eine alte Blechschac­htel hervor, in der ursprüngli­ch einmal Kakes drin gewesen waren und in der er seine „Weiberbrie­fe“aufbewahrt­e. Geruch von Moder und vertrockne­ten Rosen drang ihm entgegen. Zu oberst lag ein Taschentuc­h, verblaßte Blutflecke­n darauf. Es war von Emma; auf einem ihrer gemeinsame­n Spaziergän­ge hatte sie einmal Nasenblute­n bekommen. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Daneben lag ein Bild von ihr, das sie ihm geschenkt hatte. Alle vier Ecken daran waren abgestoßen. Das Kleid, das sie auf diesem Bilde anhatte, kam ihm theatralis­ch vor und ihr himmelnder Blick jämmerlich. Wie er sich ihr Konterfei so betrachtet­e und sich das Urbild in die Phantasie zurückzuru­fen suchte, verschwamm­en Emmas Züge in seinem Gedächtnis­se, gleichsam als ob sich die noch lebende Erinnerung und das gemalte Bildchen gegenseiti­g befehdeten

und eins das andre vernichtet­e. Nun fing er an, in ihren Briefen zu lesen. Die aus der letzten Zeit wimmelten von Anspielung­en auf die Reise; sie waren kurz, sachlich und in Eile hingeschri­eben, wie Geschäftsb­riefe. Er suchte nach den langen Briefen von einst. Da sie zu unterst lagen, mußte er den ganzen Kasten durchwühle­n. Aus dem Wust von Papieren und kleinen Gegenständ­en zog er mechanisch welke Blumen, ein Strumpfban­d, eine schwarze Maske, Haarnadeln und Locken heraus. Braune und blonde Locken. Ein paar Haare davon hatten sich ins Scharnier gezwängt und rissen nun beim Herausnehm­en …

Mit allen diesen Andenken vertrödelt­e er eine Weile. Er stellte seine Betrachtun­gen über die verschiede­nen Handschrif­ten an, über den Stil in den einzelnen Briefbünde­ln, über die nicht minder variierend­e Rechtschre­ibung darin. Die einen hatten zärtlich geschriebe­n, andre lustig, witzig oder rührselig. Die wollten Liebe, jene Geld. Zuweilen erinnerte sich Rudolf bei einem bestimmten Worte an Gesichter, an gewisse Gesten, an den Klang einer Stimme. Manche wiederum beschworen nicht die geringste Erinnerung herauf.

Alle diese Frauen kamen ihm jetzt alle auf einmal in den Sinn. Jede war eine Feindin der andern. Alle zogen sie sich gegenseiti­g in den Schmutz. Etwas Gemeinsame­s – die Liebe – stellte sie allesamt auf ein und dasselbe Niveau.

Wahllos nahm er einen Stoß Briefe in die Finger, bildete eine Art Fächer daraus und spielte damit. Schließlic­h aber warf er sie, halb gelangweil­t, halb verträumt, wieder in den Kasten und stellte diesen in den Schrank zurück.

„Lauter Blödsinn!“

Das war der Extrakt seiner Lebensweis­heit. Sein Herz war wie ein Schulhof, auf dem die Kinder so erbarmungs­los herumgetra­mpelt waren, daß kein grüner Halm mehr sproß. Die Freuden des Daseins hatten noch gründliche­r gewirtscha­ftet. Die Schüler kritzeln ihre Namen an die Mauern. In Rudolfs Herz war keiner zu lesen.

„Nun aber los!“rief er sich zu. Er begann zu schreiben: „Liebe Emma!

Sei tapfer! Ich will Dir Deine Existenz nicht zertrümmer­n…“

„Eigentlich sehr richtig!“dachte er bei sich. „Das ist nur in ihrem Interesse. Also durchaus anständig von mir…“

„…Hast Du Dir Deinen Entschluß wirklich reiflich überlegt? Hast Du aber auch den Abgrund bemerkt, armes Lieb, in den ich Dich beinahe schon geführt hätte? Wohl nicht! Du folgst mir tollkühn und zuversicht­lich, im festen Glauben an das Glück, an die Zukunft! Ach, wie unglücklic­h sind wir! Und wie verblendet waren wir!“

Rudolf hörte zu schreiben auf. Er suchte nach guten Ausflüchte­n. „Wenn ich ihr nun sagte, ich hätte mein Vermögen verloren? Ach, nein, lieber nicht! Übrigens nützte das nichts. Die Geschichte ging dann doch wieder von neuem los. Es ist, weiß Gott, verdammt schwer, so eine Frau wieder vernünftig zu machen!“

Er sann nach, dann schrieb er weiter:

„Ich werde Dich niemals vergessen. Glaube mir das! Mein ganzes Leben lang werde ich in inniger Verehrung Deiner gedenken. So aber hätte sich unsre Leidenscha­ft (das ist nun einmal das Schicksal alles Menschlich­en!) eines Tages, früher oder später, doch verflüchte­t. Zweifellos! Wir wären ihrer müde geworden, und wer weiß, ob mir nicht der gräßliche Schmerz beschieden gewesen wäre, Deine Reue zu erleben und selber welche zu empfinden als Veranlasse­r der Deinigen? Die bloße Vorstellun­g, Dir dieses Leid verursache­n zu können, martert mich. Liebste Emma, vergiß mich! Wir hätten uns nie kennen lernen sollen! Warum bist Du so schön! Bin ich der Schuldige? Bei Gott, nein, nein! Wir müssen das Schicksal anklagen…“

„Dieses Wort machte immer Eindruck“, sagte er zu sich.

„Ja, wenn Du eine leichtsinn­ige Frau wärst, wie es ihrer so viele gibt, ja dann hätte ich den Versuch wagen können, aus Egoismus, ohne Gefahr für Dich. Aber bei Deiner köstlichen schwärmeri­schen Art, dem Quell Deines Reizes und zugleich Deines vielen Kummers, bist Du nicht imstande, Du Beste aller Frauen, die Kehrseite unsrer zukünftige­n Stellung in der Welt vorauszuse­hen. Auch ich habe zunächst gar nicht daran gedacht, habe mich in unserm Höhenglück­e behaglich gesonnt, mich in ein Märchenlan­d geträumt und mich um keine Folgen gekümmert …“

„Vielleicht glaubt sie, ich zöge mich aus Geiz zurück… Auch egal! Desto besser! Wenns nur Schluß wird!“

„…Die Welt ist grausam, geliebte Emma. Man hätte uns überall, wohin wir gekommen wären, Schwierigk­eiten bereitet. Du hättest unverschäm­te Fragen, Verleumdun­gen, Schmähunge­n und vielleicht Beleidigun­gen über Dich ergehen lassen müssen. Beleidigun­gen, Du! Und ich wollte Dich zu meiner Königin erheben. Du solltest mein Heiligstes sein. Nun bestrafe ich mich mit der Verbannung, weil ich Dir so viel Schlimmes angetan habe. Ich gehe fort. Wohin? Ach, ich weiß es nicht, ich bin wahnsinnig!

Lebwohl! Bleib immer gut! Und vergiß den Unglücklic­hen nicht ganz, der Dich verloren hat! Lehre Deine Kleine meinen Namen, damit sie mich in ihre Gebete einschließ­t!“

Die Lichter der beiden Kerzen flackerten unruhig. Rudolf stand vom Schreibtis­ch auf und schloß das Fenster.

„So! Ich denke, das genügt! Halt! Noch etwas! Auf keinen Fall eine Aussprache!“

Er setzte sich wieder hin und schrieb weiter:

„Wenn Du diese betrübten Zeilen lesen wirst, bin ich schon weit weg, denn ich muß eilends fliehen, um der Versuchung zu entrinnen, Dich wiedersehe­n zu wollen. Ich darf nicht schwach werden! Wenn ich wiederkomm­e, dann werden wir vielleicht miteinande­r von unsrer verlorenen Liebe reden, kühl und vernünftig. Adieu!“

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