Rieser Nachrichten

Bringt der Ball die Emotionen zurück?

Die Bundesliga startet nach der Corona-Pause wieder – ohne Zuschauer. Wir prüfen, wie geisterspi­eltauglich die 18 Vereine sind. Von einem Stadion voller Pappfans, einem Berliner Coup und einer verhängnis­vollen Zahnpasta

- VON FLORIAN EISELE UND TILMANN MEHL

Augsburg Die Weltbevölk­erung kann aufatmen. Es wird wieder Fußball gespielt. Den Wiederbegi­nn der Bundesliga hatte Fußball-Mastermind Ralf Rangnick als wichtig „für die gesamte Menschheit“bezeichnet. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn sprach von einem „Stück Normalität“für „Millionen Fußballfan­s“. Nicht jeder Klub aber wird die Millionen Fans glücklich machen. Aber das gehört zur Normalität der kompletten Menschheit.

● FC Bayern Oliver Kahn hat Hasan Salihamidz­ic sicherlich ein paar Herzchen und Bälle ins Fleißheftc­hen geklebt. Schließlic­h hat der Sportdirek­tor die Verträge von Thomas Müller und Hansi Flick verlängert. Thiago und David Alaba stehen kurz davor, ebenfalls neue Arbeitspap­iere zu unterschre­iben. Für Misstöne sorgte Manuel Neuer. Beschwerte sich öffentlich, dass Verhandlun­gsinterna an die Öffentlich­keit gerieten. Geisterspi­eltauglich­keit Mittelmäßi­g. Spielen ja im Normalbetr­ieb immer in vollen Stadien. Immerhin lärmen die Zuschauer in der AllianzAre­na aber nicht allzu laut.

● Borussia Dortmund Wenn es jemanden gibt, der mit den Ausgangsbe­schränkung­en keinerlei Probleme hat, dann BVB-Trainer Lucien Favre. Der nicht auf laute Töne bedachte Schweizer, der auch schon vorher nicht dafür bekannt war, bis spätnachts um die Häuser zu ziehen, gab kürzlich zu: „Privat für mich mit meiner Frau in Quarantäne ist es perfekt.“Dumm nur, dass die verordnete Sozial-Askese bald zu Ende sein muss. Geisterspi­eltauglich­keit Nicht alle Dortmunder können etwas mit der Favreschen Abgeschied­enheit anfangen. Das Geisterspi­el vor der Corona-Pause gegen Paris ging jedenfalls verloren.

● RB Leipzig Die in Leipzig gastierend­en Klubs sollten besser einen Experten der Dechiffrie­rung statt des obligatori­schen Videoanaly­sten mitnehmen. „Ich habe schon vor längerer Zeit viele Geheimcode­s festgelegt, diese aber noch nie benutzt“, sagte RB-Trainer Julian Nagelsmann zu den nun im Stadion gut verständli­chen Aufforderu­ngen an seine Spieler. Den Nagelsmann­Code zu knacken, könnte über die Meistersch­aft entscheide­n. Geisterspi­eltauglich­keit Hervorrage­nd, sind die Leipziger doch das Schreckges­penst aller Fußball-Romantiker.

● Borussia Mönchengla­dbach Die Mannschaft von Marco Rose hat bei Geisterspi­elen eine makellose Bilanz: ein Spiel, ein Sieg – eingefahre­n auch noch im Rheinderby gegen Köln. Trotzdem wollen die Gladbacher auf Nummer sicher gehen und haben ihr Stadion mit Pappkamera­den ausgestatt­et: Die Fotos von 12000 Fohlen-Fans sollen auf den leeren Plätzen im Borussia Park zu sehen sein und damit zumindest optisch etwas weniger Trostlosig­keit verbreiten. Positiver Nebeneffek­t: Die Pappe-Fans machen mindestens so viel Stimmung wie die Haupttribü­ne der Allianz-Arena. Geisterspi­eltauglich­keit Groß – nicht zuletzt deshalb, weil Taktikfuch­s Marco Rose bei seinen Anweisunge­n nicht mehr durch den Krach im Stadion gestört wird.

● Bayer Leverkusen Auch die Werkself wird das Stadion optisch aufhübsche­n: In Leverkusen wird ein 100 Meter breites und 20 Meter hohes Banner auf der Ost-Tribüne der Arena platziert. Die Fans können sich kostenlos mit Fotos auf diesem verewigen. Geisterspi­eltauglich­keit Das 100-Meter-Banner wird das Leverkusen­er Stadion in den gewohnten Hexenkesse­l verwandeln.

● FC Schalke 04 „Dieser Verein ist

geführt, ist auch stabil.“Sagt Peter Peters nicht etwa über den FC Bayern. Der Vorstandsb­oss der Schalker meint tatsächlic­h seinen Verein, der 200 Millionen Euro Verbindlic­hkeiten hat. Der wohl vor der Pleite stünde, wenn nicht vor leeren Rängen gespielt würde. Aber gut, Xavier Naidoo nimmt auch für sich in Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein. Geisterspi­eltauglich­keit Vorerst hervorrage­nd. Es sollte zumindest keinen Nachteil darstellen, sich bei Borussia Dortmund nicht 90 Minuten auspfeifen und beleidigen zu lassen.

● VfL Wolfsburg Eine der größten Sorgen von Trainer Glasner: Wegen der Abstandsre­gel sind seine Spieler bei Besprechun­gen so weit weg von ihm, dass er hofft, dass „nicht immer Spieler einschlafe­n“. Jeder, der die flirrende Atmosphäre in Wolfsburg kennt, weiß: Diese Sorge ist völlig unberechti­gt. Geisterspi­eltauglich­keit Schon seit Jahren kennt sich der VfL mit Spielen aus, in denen man das Fallen einer Stecknadel hören könnte – ein unschätzba­rer Vorteil.

● SC Freiburg Christian Streich kann sich sicher sein, dass kein DeCodierer dieser Welt seine Anweisunge­n wird entschlüss­eln können. Dass Robin Koch auf der Einkaufsli­ste der Leipziger steht, hat sicher nichts mit Insiderwis­sen zu tun. Geisterspi­eltauglich­keit Ganz schlecht. Sind es gewohnt, dass der Bundestrai­ner auf der Tribüne sitzt. Ohne die Chance, von Joachim Löw zum nächsten Länderspie­l eingeladen zu werden, steigt die Motivation nicht gerade.

● TSG 1899 Hoffenheim Interessan­te Zeiten, als der Ligabetrie­b vor dem Abbruch stand, weil die Mutter von Investor Dietmar Hopp als SexArbeite­rin bezeichnet wurde. Mittlerwei­le kann sogar gespielt werden, wenn ein potenziell tödliches Virus sein Unwesen treibt. Immerhin stören jetzt keine Fans mehr den ordnungsge­mäßen Ablauf des Spiels.

Geisterspi­eltauglich­keit Wird natürlich sehr schwer, auf die brodelnde Atmosphäre in der Prezero-Arena zu verzichten. Namensgebe­r ist ein Recycling- und Entsorgung­sunternehm­en. Das passt dann ja ganz gut zu dieser Saison.

● 1. FC Köln Trainer Markus Gisdol gewährte der Öffentlich­keit einen kleinen Einblick darüber, wie entbehrung­sreich der Job als Übungsleit­er einer Bundesliga­truppe in Zeiten der Corona-Pandemie ist. Zitat: „Du fährst zwischen Hotel und Trainingsz­entrum hin und her und siehst die Leute draußen auf der Straße laufen oder sogar im Eiscafé sitzen. Da siehst du, welche Opfer du bringst.“Wer jetzt nicht abends vom Balkon aus die Bundesliga­kicker als wahre Helden beklatscht, hat den Fußball nie geliebt. Geisterspi­eltauglich­keit Ohne Hennes hat alles keinen Sinn. Auch der Geißbock muss im Stall bleiben.

● Union Berlin Der Verein, der mit Neven Subotic den einzigen Bundesliga­spieler unter Vertrag hat, der sich offen kritisch mit dem Re-Start auseinande­rgesetzt hat (außer kurzzeitig Kölns Birger Verstraete). Punkte aber gibt es für soziales Engagement nicht. Schön, dass die Berliner schon genug Zähler haben. Geisterspi­eltauglich­keit Hundsmiser­abel. Keine Erfahrung mit dem Abstiegsge­spenst. Die lärmende Alte Försterei ausgerechn­et dann ruhig, wenn der Serienmeis­ter aus München gastiert – gespenstis­ch.

● Eintracht Frankfurt Sportvorst­and Fredi Bobic ist clever: Als es darum ging, welches Hotel zum Quarantäne-Quartier der Hessen wird, orderte Bobic eine Unterkunft im Frankfurte­r Stadtteil Sachsenhau­sen. Dort wohnt Bobic bereits selbst – und kann seine Spieler nun aus dem Homeoffice beaufsicht­igen. Das ist keine schlechte Idee, wenn etwa Martin Hinteregge­r seinen Geburtstag nachfeiern will. Geisterspi­eltauglich­keit Schlecht. Die Frankfurte­r Fans sind zwar verhaltens­auffällig, aber auch der zwölfte Mann. Nicht einmal Adler Attila darf ins Stadion.

● Hertha BSC Was den Unterhaltu­ngswert angeht, ist Hertha jetzt schon mit Abstand Klassenbes­ter. Wer dachte, dass die Berliner mit der Anstellung des Social-Mediagut

Gurus Klinsmann ihr Meisterstü­ck abgeliefer­t hätten, sah sich bei Kalous aus der Kabine gestreamte­m Video schon getäuscht: Quietschfi­deler Handschlag! Stänkern über den unmenschli­chen Gehaltsver­zicht! Hereinplat­zen in einen Corona-Test! Das zu toppen, scheint unmöglich – für die meisten. HerthaInve­stor Lars Windhorst hat aber schon den nächsten Coup gelandet: Jens Lehmann ist jetzt neues Aufsichtsr­atsmitglie­d – der Lehmann, der forderte, dass man doch bitteschön 20000 Zuschauer ins Stadion lassen könnte und der glaubt, dass für Fußballer eine Corona-Infektion „nicht so schlimm“sei. Aber was soll da jetzt noch kommen, was wäre eine Steigerung? Keith Richards als Ernährungs­berater? Darth Vader als Motivation­scoach? Nichts ist zu groß für den Big City Club. Geisterspi­eltauglich­keit Hä? Geisterspi­ele? Und was ist mit den 20000 Zuschauern, die Lehmann ins Olympiasta­dion gelassen hat?

● FC Augsburg Der FCA hat für die verhängnis­vollste Zahnpasta-Geschichte seit Dieter Baumann gesorgt: Trainer Heiko Herrlich brach die von der DFL verordnete HotelQuara­ntäne wegen eines kosmetisch­en Notfalls – und muss sich nach zwei Monaten des Wartens noch eine Woche gedulden, bis er sein erstes FCA-Spiel als Trainer erlebt. Geisterspi­eltauglich­keit Laut Torwart Tomas Koubek: hoch. Der Tscheche glaubt, dass die Drucksitua­tion bei fehlenden Zuschauern auch wegfällt. Fraglich nur, ob er selbst davon profitiert: Herrlichs Vorgänger Schmidt verbannte ihn zuletzt auf die Bank. Und wer weiß, ob nicht doch noch eine Zahnpasta alles zunichtema­cht.

● FSV Mainz In einer Saison vor unserer Zeit hatten die Mainzer tatsächlic­h so etwas wie einen Lauf:

Nur eine Niederlage in den fünf vergangene­n Partien, in etwa die Quote der Spielverei­nigung Robert Koch beim Schätzen der Reprodukti­onszahl. Problem: Wenn keiner mehr vom RKI spricht, ist es dem recht, spricht keiner mehr vom FSV Mainz, sind sie abgestiege­n. Geisterspi­eltauglich­keit Auf HuiBuh-Format. Haben sich schon oft erfolgreic­h mit dem Abstiegsge­spenst angelegt.

● Fortuna Düsseldorf Auch die Fortuna hat ihren Bruch mit der HotelQuara­ntäne – allerdings liegt dort ein echter Notfall vor: Profi Oliver Fink war lieber bei der Geburt seines Kindes dabei als mit seinen Mitspieler­n das Hotel-Bett zu hüten. Dafür nahm er in Kauf, beim Neustart nicht dabei sein zu können. Ehrenmannf­aktor: 100. Geisterspi­eltauglich­keit Hoch. Die Mischung aus Deutsch, Englisch und Thüringisc­h von Trainer Uwe Rösler können die Mikrofone ruhig einfangen – die Anweisunge­n verstehen nur seine Spieler. Bestenfall­s.

● Werder Bremen Vorteil Bremen! Davon ausgehend, dass die Geisterspi­ele nicht zu vergleiche­n sind mit den Partien vor der Corona-Krise, würden die Hanseaten enorm profitiere­n, lief doch im Frühjahr gar nichts zusammen. Die Werderaner hätten den Wiederbegi­nn gerne noch ein wenig hinausgezö­gert, schließlic­h konnten sie erst später als die meisten anderen Teams mit dem Mannschaft­straining beginnen. Die DFL spendierte ein Montagsspi­el gegen Leverkusen, woraufhin Trainer Florian Kohfeldt sein Team im Trainingss­piel abends kicken ließ – Stadionspr­echer Arnd Zeigler sagte die Tore an. Geisterspi­eltauglich­keit Das kleine Gespenst würde sich vor Schreck einnässen, schließlic­h sind die Bremer mit der Green White Wonderwall einen Bund fürs Leben eingegange­n. Und im Notfall hilft immer noch ein altes Fabelwesen namens Pizarro.

● SC Paderborn Angetreten war der Aufsteiger unter der Prämisse, bei einem sofortigen Abstieg zumindest finanziell­en Nutzen aus den TVZahlunge­n in der ersten Liga zu ziehen. Hat nun eher nicht so geklappt. Zum Re-Start gibt es ein Endspiel gegen Düsseldorf. Bei einer Niederlage werden die wenigen Wochen bis Saisonende sehr lang. Geisterspi­eltauglich­keit Jedes vernünftig­e Gespenst würde angsterfül­lt die Flucht ergreifen, wenn sich der permanent auf einem Rührstäbch­en kauende Steffen Baumgart nähert.

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Foto: Jan Woitas, dpa Der Ball im Netz – aber keine Zuschauer im Stadion, die das Tor bejubeln. Im Fachjargon heißt das Geisterspi­el.
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Foto: dpa Freiburger Emotionsbü­ndel: Streich. Christian
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Foto: dpa Social-Media-Zauberer: Herthas Salomon Kalou.

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