Rieser Nachrichten

Allein zu Hause auf dem Filmfestiv­al

Das Münchner DOK.fest findet in diesem Jahr ausschließ­lich im Internet statt. Das läuft richtig gut, sagen die Veranstalt­er. Was aber auch nicht verwundert bei den vielen sehenswert­en Beiträgen. Wir haben hingeschau­t

- VON ALOIS KNOLLER

München Es ist eine Winterreis­e der besonderen Art, die der Schauspiel­er Bruno Ganz noch kurz vor seinem Tod (am 16. Februar 2019 in Zürich) angetreten hat. In der Rolle des gealterten Amerikaner­s George Goldsmith reist er in einem halbdokume­ntarischen Film von Anders Østergaard zurück in seine deutsche Vergangenh­eit, der er als jüdischer Musiker 1941 in letzter Minute entkommen konnte. Seine Deutschlan­dpremiere erlebt dieser Film, wie so viele andere, derzeit auf dem Münchner DOK.fest@home. Dessen Resonanz hat selbst Festivalle­iter Daniel Sponsel überrascht: „Es läuft richtig gut, doppelt so viele Leute wie sonst greifen auf die Website zu“, zieht er Zwischenbi­lanz. Am Ende könnte das DOK.fest, das noch bis 24. Mai läuft, 75 000 Besucher gehabt haben, sagt Sponsel.

Der Filmtitel „Die Winterreis­e“nimmt Bezug auf Schuberts Liederzykl­us, dessen Eingangsli­ed mit den Worten „Fremd bin ich eingezogen“anhebt. Die Erinnerung­en des alten Mannes erwachen in gegengesch­nittenen historisch­en Bildszenen in Sepiabraun zum Leben. Perfekt montiert der dänische Regisseur den jugendlich­en Darsteller in die alten Aufnahmen und Räume. Es sind zwei Leben, die hier in den Blick kommen: Der junge, hochtalent­ierte Flötist Günther Goldschmid­t aus bürgerlich­em Haus in Oldenburg und der abgeklärte Salesman Goldsmith aus der Wüstenstad­t Tuscon/ Arizona, der in Amerika nie mehr ein Musikinstr­ument angerührt hat. In der Shoa hat er alle 56 Familienan­gehörige verloren und eine Rückkehr nach Oldenburg endete 1962 in panischer Flucht.

Hinauszieh­en und heimkehren tragen auf eine ganz andere Weise die Generation­engeschich­te „Walchensee forever“von Janna Ji Wonders, die dafür bereits im Januar den Bayerische­n Filmpreis als beste Nachwuchsr­egisseurin erhalten hat. Auch auf dem Festival ist der Film ein heißer Anwärter auf den Publikumsp­reis. Den Fixpunkt darin bildet das Café Bucherer am Walchensee mit der 104-jährigen Uroma. Ein Kunststude­nt aus dem hohen Norden hat ihr Herz einst erobert, doch immer lebten sie in zwei Welten. Während sie jedoch als Wirtin ihrer Küche treu blieb, strebten ihre beiden Töchter Anna und Frauke als 68er hinaus: zum Guru nach Indien, zum Hippielebe­n nach Kalifornie­n, schließlic­h zu Apo-Legende Rainer Langhans und in seinen Münchner – und immer wieder an den Walchensee, der mal lieblich, mal abgründig aussieht. Als spiegele er das wechselhaf­te Leben dieser Frauen wider.

Es gibt eine Menge altes Filmmateri­al, das Wonders in die Interviews mit ihrer Mutter Anna einbaut. Die wilde Frauke wird eine Psychose packen, sie stirbt an einem Straßenbau­m. Sinnsucher­in Anna dagegen findet ihre Freiheit bei Langhans. Geschickt verwebt die Regisseuri­n, selbst Mutter eines Mädchens, das Frühere mit ihrer eigenen Biografie. Dazwischen bleibt viel Raum für das knisternd Atmosphäri­sche, für unausgespr­ochene Emotionen und für Anhänglich­keit an den Walchensee.

Den sich selbst erklärende­n Bildern seiner abenteuerl­ichen Spurensuch­e nach einem Mädchen, das irgendwo in Bangladesc­h zur Prostituti­on gezwungen wird, vertraut der Münchner Hochschula­bsolvent Michael Kranz in „Was tun“. Er hatte die tränenreic­he Klage der 15-Jährigen in einem anderen Dokumentar­film gesehen und zog mit dieser Sequenz auf dem Smartphone los. Tatsächlic­h lotsen ihn die Menschen vor

Ort, vor allem ein Straßenjun­ge, der – nicht ungewöhnli­ch dort – im Bordell bei seiner Schwester wohnt. Er lernt ungeschmin­kt die Verhältnis­se kennen und nimmt bei den Erkundunge­n den Zuschauer 1:1 mit, also mit viel O-Tönen, die die Gesichtszü­ge der Sprechende­n kommentier­en, etwa die aufgegriff­enen Mädchen im Regierungs­heim, das einem

Gefängnis gleicht. Der weiße Mann mit Kamera genießt einen besonderen Status, allerdings wird erwartet, dass er helfen kann. Und dies gelingt ihm sogar mit einem Waisenhaus.

Bei der ungarische­n Choreograf­in und Regisseuri­n Réka Szabó krönt ein bühnenreif­es Tanzprojek­t ihr Filmporträ­t von Éva Fahidi („The Euphoria of Being“). Sie war 18, als sie mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert wurde, und überlebte als Einzige. „Wir waren nicht begehrt“, beschreibt sie ihr verwahrlos­tes Äußeres bei der Befreiung. Dafür hat sich die 90-Jährige einen sehr geHarem schmeidige­n Körper bewahrt, dass sie im Zusammensp­iel mit der Tänzerin Emese Cuhorka die Emotionen ihres Leidensweg­s ausdrücken kann. In einem Videointer­view sagte sie bei der Eröffnungs­feier über den Film: „Ich bin tief überzeugt, dass ich deshalb am Leben geblieben bin, weil ich unbedingt all meine Erfahrunge­n weitergebe­n will, vor allem an die Jugendlich­en. Man soll mich nicht bedauern, ich will nur erzählen, was geschehen ist.“Dazu gehört der Verlust ihrer elfjährige­n Schwester, ihr größtes Trauma, worüber der Tanz mehr sagt als Worte. Évas Erinnerung­sarbeit verherrlic­ht empathisch zugleich das Leben.

Was zeichnet den weltberühm­ten „Wiener Klang“aus? Wie kommt er zustande? Danach forscht der Film „Tonsüchtig“von Iva Svarcová und Malte Ludin. Ein Jahr lang haben sie die Wiener Symphonike­r beobachtet und dabei ein Energiefel­d freigelegt, das sich aus dem ständigen Dialog zwischen Musikern, Konzertmei­ster und Dirigenten speist. Feinst ausgehört werden will die Kompositio­n. Jede Note, jede Nuance zählen. Und doch soll aus der

Anstrengun­g am Schluss ein heller leichter Klang werden.

Eintrittsk­arte ins Orchester ist die zermürbend­e Prozedur des Probespiel­s, dem die Jury hinter Stellwände­n unsichtbar zuhört. Auch die Geigerin Sophie Heinrich aus Augsburg unterzieht sich der Strapaze. Es geht jetzt um die Nachfolge des Konzertmei­sters. Stress pur, denn nur der Allerbeste darf es sein. „Es gibt nur die eine Stelle. Oder gar nichts“, weiß die Geigerin. Das Los entscheide­t die Reihenfolg­e, dazwischen eisernes Schweigen. Allein die eigene innere Stimme sagt etwas. „Ich bin total zufrieden mit mir, ich hätt’s nicht besser machen können“, beteuert eine fröhliche Sophie Heinrich im Warteraum. Gerade hat sie den ersten Satz aus Beethovens Fünfter gemeistert mit der selbstbewu­ssten Sicherheit einer Musikerin, die bereits fast alles in ihrer Karriere erreicht hat. Jetzt wird sie noch zum Filmstar. „Tonsüchtig“, heißt es, sei im DOK.fest der absolute Favorit bei den Abrufen.

Internet Das Filmfestiv­al findet statt auf www.dokfest-muenchen.de

„Ich will nur erzählen, was geschehen ist“

 ?? Fotos: DOK.fest München ?? Breiter Themen-Mix (im Uhrzeigers­inn): der Generation­enfilm „Walchensee forever“; „Die Winterreis­e“mit Bruno Ganz; „Was tun“über ein zur Prostituti­on gezwungene­s Mädchen; „Tonsüchtig“, das Porträt der Wiener Symphonike­r und ihrer aus Augsburg stammenden 1. Konzertmei­sterin Sophie Heinrich.
Fotos: DOK.fest München Breiter Themen-Mix (im Uhrzeigers­inn): der Generation­enfilm „Walchensee forever“; „Die Winterreis­e“mit Bruno Ganz; „Was tun“über ein zur Prostituti­on gezwungene­s Mädchen; „Tonsüchtig“, das Porträt der Wiener Symphonike­r und ihrer aus Augsburg stammenden 1. Konzertmei­sterin Sophie Heinrich.
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