Rieser Nachrichten

Gefährlich­es Spiel

Die Bundesliga ist zurück, doch volle Ränge wird es lange nicht geben. Fans müssen lernen, ein Leben ohne ihre Leidenscha­ft zu führen – so wie Harald Bauer. Über die Sehnsucht nach den Stammplatz­kumpels, Angst vor dem Ausverkauf und neue Freuden am Samsta

- VON CHRISTOF PAULUS

Trotz anhaltende­r Beschränku­ngen startet heute wieder die Fußball-Bundesliga. Ist das gut? Kann das gut gehen? Und was sagen eigentlich die Fans dazu?

Königsbrun­n Eigentlich hätte Harald Bauer aus Königsbrun­n sich an diesem Samstag sein rotes Trikot angezogen. Er wäre losgeradel­t, hätte auf dem Weg ein, zwei Freunde getroffen. Die Augsburger Ulrichskir­che und den Hotelturm im Blick gehabt und die B17 passiert. Mit jedem Kilometer auf seinem Weg wäre er mehr und mehr Menschen begegnet. Viele davon wie er in einem Trikot, manche auch in Rot, einige in Grün, viele in Weiß. Ihr Ziel: die WWK-Arena, das Stadion des FC Augsburg. Doch Menschenma­ssen werden ausbleiben, wenn die Bundesliga an diesem Samstag zurückkehr­t aus ihrer Zwangspaus­e, in die sie wegen der Corona-Pandemie musste. Ist der Neustart das Ende der Leidenszei­t für Fußballfan­s?

Vielleicht ist er sogar erst der Anfang.

An diesem Samstag hätte der FC Augsburg eigentlich gegen RB Leipzig gespielt, am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison. Vielleicht hätte es ein Finale um den Klassenerh­alt gegeben, Harald Bauer wäre dabei gewesen. Stattdesse­n sitzt er am Samstag im Wohnzimmer, nur mit seinem Nachbarn. Sie schauen zu, wie die Bundesliga-Fußballer wieder aufs Feld dürfen, während fast alle anderen Ligen der Welt ruhen, Europas Grenzen dicht und Deutschlan­ds Restaurant­s geschlosse­n sind. Die Liga macht keinen Hehl daraus: Es geht um Geld, um Jobs, angeblich um die Existenz mancher Vereine. Einen positiven Effekt für „die gesamte Menschheit“solle der Neustart sogar haben, sagte der frühere Bundesliga­trainer Ralf Rangnick. Wenn Harald Bauer darüber spricht, spürt man nichts von diesem schwülstig­en Pathos. „Aus ökonomisch­er Sicht kann ich es verstehen“, sagt er. „Aber ich freue mich nicht so richtig darauf.“Kurz vor 15.30 Uhr an diesem Samstag wird er den Fernseher anschalten. Für den FCA geht es gegen Wolfsburg statt RB Leipzig, an Spieltag 26 statt 34, vor null Zuschauern statt 30000. Der Receiver im Schrank, auf dem der Fernseher steht und über den Bauer die Spiele empfängt, hat ruhige Wochen hinter sich. So wie der Besitzer.

Entspannt sitzt der 59-Jährige auf dem braunen Sofa in seinem Wohnzimmer. Er hat stets ein leichtes Lächeln auf den Lippen und fast keine Haare mehr auf dem Kopf. Ganz unaufgereg­t erzählt er davon, wie er sich aufregt. Aber nur dann, wenn der Ball rollt. Er hat eine Dauerkarte beim FCA, sitzt bei jedem Heimspiel in Block R. 90 Minuten lang fiebert er mit, brüllt, schimpft, jubelt. „Was die Schiedsric­hter sich manchmal von mir anhören müssen“, sagt er, sein Lächeln wird zu einem Grinsen. „Der Fußball geht mir ab, das ist doch klar.“Und die Geisterspi­ele bringen ihn nur teilweise zurück. Denn für Bauer geht es um mehr als zu erfahren, wer besser kicken kann. Da ist sein Arbeitskol­lege Robert in der Bank in Mering, mit dem er sonst jeden Montagmorg­en bei einem Kaffee fachsimpel­t – doch der während Corona an einen anderen Standort versetzt

Da sind seine Sitznachba­rn auf ihren Stammplätz­en im gleichen Block, die er nur bei Heimspiele­n sieht. Das Stadion ist ein sozialer Schmelztie­gel.

Davon können viele erzählen, Florian Tüchert etwa. Der 28-Jährige hatte früher eine Dauerkarte beim FC Augsburg, bis er 2019 zum Arbeiten nach Bremerhave­n ziehen musste. In der fremden Stadt half ihm der Fußball, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wenn der FCA in der Nähe spielte, in Wolfsburg, Bremen oder zum DFB-Pokal in Verl, war er da. Und wenn er Zeit hatte, ging er einfach so ins Stadion, schaute Spiele in Osnabrück oder in den Niederland­en. Aber gerade gehe es auch ohne Fußball, sagt er. Geisterspi­ele empfindet er als eine „Beleidigun­g für Fans“.

Auch die aktiven Fanszenen in Deutschlan­d haben bekundet, dass sie diese nicht wollen. Jennifer Schnabel ist Vorsitzend­e des Vereins Ulrich-Biesinger-Tribüne, welcher die Fans auf der Stehplatzt­ribüne im FCA-Stadion vereinen will. Natürlich fehle ihr der Sport, sagt sie, Jubel und Enttäuschu­ng, die mit dem Spiel verbunden sind. Doch: „Fußball ist nicht systemrele­vant“, sagt sie. „Es ist unverantwo­rtlich, die Spieler in Gefahr zu bringen.“Corona-Tests für Fußballer würden „an anderer Stelle sicher dringender benötigt“. Die Geisterspi­ele wolle sie lieber im Radio verfolgen als ein

abzuschlie­ßen. Sie, die sonst durch ganz Deutschlan­d reist, um den FCA zu sehen.

Ihre Kritik teilen viele Fans, aber nicht alle. Sandra Marx aus Wemding in Nordschwab­en etwa freut sich auf den Neustart. Zwar wäre sie gerne im Stadion, doch: „Auch wenn es nur Geisterspi­ele sind, ist das besser als keine Bundesliga.“Nach zehn Wochen Warten ist es nicht mehr so wichtig, dass ihre Dauerkarte jetzt nutzlos ist.

Zehn Wochen, in denen Harald Bauer seine FCA-Uhr nicht mehr angezogen hat. Sie liegt in einer kleinen Vitrine auf seiner Kommode neben vielen anderen Uhren, soll Glücksbrin­ger sein. „Aber das klappt nicht so oft“, sagt er und lacht. „Man weiß nie, was passiert. Deshalb bin ich gerne FCA-Fan. Immer wenn ich ins Stadion gehe, kribbelt es.“Auswärtssp­iele gehören für Bauer auch dazu. Jede Saison fährt er zumindest einmal im Bus der Traditions­mannschaft des FCA mit, wenn sie gegen die Ex-Profis eines anderen Bundesligi­sten spielt – am gleichen Wochenende, an dem auch die Bundesliga­teams aufeinande­rtreffen. Bauer greift nach seinem Handy auf dem Wohnzimmer­tisch, eingepackt in eine FCA-Hülle. Er zeigt Videos vom Ausflug nach Köln im November, aus einem „großartige­n Stadion“, wie er sagt. Präsentier­t ein gemeinsame­s Bild mit Salva, dem FCAZeugwar­t. Oder mit Jürgen Haller. Dessen Vater, die Augsburger Fußball-Legende Helmut Haller, hatte Bauer in den Siebzigern noch selbst im Rosenausta­dion spielen sehen. Damals spielte Bauer noch Jugendwurd­e. fußball. Der Sport war noch kein Milliarden­geschäft.

Geisterspi­ele, als Dauerlösun­g nur fürs Fernsehen, waren undenkbar. Eine Zeit, die Ultras dem modernen Fußball vorziehen würden. Sie sind die Gruppierun­g, die im Stadion meist für Stimmung sorgt, aber auch kritisiert und provoziert. Im März standen die deutschen Fanszenen aufgrund von Schmähplak­aten in der Kritik, schon damals verwiesen sie immer wieder auf ihr gesellscha­ftliches Engagement. Nun werde dieses auch wahrgenomm­en, sagt Gunter A. Pilz. Er ist Sportsozio­loge und Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkul­tur. In Augsburg etwa halfen Fans ihren Mitmensche­n mit mehreren Aktionen wie einer Einkaufshi­lfe oder Care-Paketen für die Drogenhilf­e. Die Fankultur in Deutschlan­d habe sich in den vergangene­n Wochen nicht verändert, sagt Pilz, doch sie werde nun wertgeschä­tzt. Die Zeit der Geisterspi­ele werden die Fans seiner Einschätzu­ng nach ertragen. „Der Fußball ist wichtig als Ventil, wir können all unsere Emotionen rauslassen“, sagt Pilz. „Aber wenn das nicht wiederkomm­t, ist der Fußball tot.“Alleine vorm Fernseher funktionie­re das nur bedingt. „Man braucht die Gemeinscha­ft.“

Zurück bei Harald Bauer, zu Hause in seinem Wohnzimmer. An der Wand hinter ihm hängen Bilder seiner Kinder und seiner Frau. Erst am vergangene­n Wochenende hat er Kinder und Enkel zum ersten Mal nach langen, strengen Beschränku­ngen wiedergese­hen. Ohne Corona hätte Bauer zumindest den SamstagFer­nseh-Abo nachmittag damit verbracht, das Auswärtssp­iel des FCA in Düsseldorf im Fernsehen zu schauen. Jetzt hatte er gleich zwei Familienta­ge am Wochenende. Sehnsüchti­g hatte er auf das Wiedersehe­n gewartet. Viel sehnsüchti­ger als auf die Bundesliga-Rückkehr an diesem Samstag, um 15.30 Uhr. Eigentlich ist das die Uhrzeit, die Fußballfan­s Woche für Woche kaum erwarten können.

Das ist die traditione­lle Uhrzeit, zu der die Liga anstößt. Kein Zeitpunkt der Woche macht es so leicht, zu Tausenden selbst aus dem Allgäu nach Bremen zu fahren, weil viele Leute frei haben und ins Stadion gehen können. Doch seit Jahren verteilt die Liga Spiele zusehends über das Wochenende und darüber hinaus, um attraktive­r für Fernsehzus­chauer zu werden. Die Anstoßzeit ist deshalb zu einem Symbol für den Konflikt geworden, der seit Jahren den Fußball bestimmt. Denn wie es weitergeht mit der Liga, das entscheide­t nicht das Spitzendue­ll Bayern gegen Dortmund. Es entscheide­t die Frage, was die Liga zu opfern bereit ist, um ihren Profit zu sichern – oder ihr Überleben.

In den vergangene­n Jahren fanden sogar Spiele am Montagaben­d statt, wenn viele fast automatisc­h vorm Fernseher sitzen. Arbeitnehm­er, die dann ihren Verein auswärts live sehen wollen, brauchen dafür häufig zwei freie Tage. Gegen Montagsspi­ele haben die Kurven heftig protestier­t. Dass die Fans im Stadion nur zweitrangi­g sein könnten, mag absurd klingen. Doch jetzt, im Notbetrieb, plant die Liga sogar ganz ohne ihr Stadionpub­likum.

In England sind die aktiven Fanszenen schon lange Randersche­inungen – und die Liga dort setzt so viel Geld um wie keine andere. Das dortige Geschäftsm­odell basiert auf horrenden Fernsehein­nahmen und Dauerkarte­n, die sich meist nur noch betuchte Leute leisten können. Englands Fußballsta­dien sind seit Jahren stehplatzf­rei und gentrifizi­ert. FCA-Stehplatzf­an Schnabel ist sich sicher, dass Geisterspi­ele zeigen werden, dass Deutschlan­d den englischen Weg nicht einschlage­n könnte. „Der deutsche Fußball verkauft sich gerade wegen der Fans so gut – sportlich wie wirtschaft­lich.“

Harald Bauer greift ins obere Fach der Garderobe im Flur. Er wühlt ein wenig, dann zieht er zwei Schals hervor, eine Mütze und noch einen Schal, alle in Rot-Grün-Weiß wie der FC Augsburg. „Schal und Mütze trage ich immer im Stadion“, sagt er. In den vergangene­n Wochen sind sie im Fach nach hinten gerutscht. Das wird nicht so bleiben, zumindest den Schal wird er vorm Fernseher anziehen. An diesem Samstag hat der FC Augsburg ein Heimspiel, doch Harald Bauer darf nicht dabei sein. Er sitzt im Wohnzimmer und schaut, wie sein Verein gegen den Abstieg kämpft. Doch die Entscheidu­ng um den Klassenerh­alt ist weit weg. Es ist Mitte Mai, aber bis die Bundesliga ihre Abschlusst­abelle kennt, wird es noch mindestens einen Monat dauern.

Die aktive Fanszene will keine Geisterspi­ele

Die Anstoßzeit ist Symbol für einen großen Konflikt

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 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Seine Liebe zum Fußball versteckt Harald Bauer auch im Büro nicht. Beim FC Augsburg hat er eine Dauerkarte. Am Wochenende kommt die Bundesliga zurück – doch Fans dürfen nicht ins Stadion. Wie so viele andere sagt Bauer deswegen: „Ich freue mich nicht so richtig darauf.“
Foto: Ulrich Wagner Seine Liebe zum Fußball versteckt Harald Bauer auch im Büro nicht. Beim FC Augsburg hat er eine Dauerkarte. Am Wochenende kommt die Bundesliga zurück – doch Fans dürfen nicht ins Stadion. Wie so viele andere sagt Bauer deswegen: „Ich freue mich nicht so richtig darauf.“

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