Rieser Nachrichten

Die (fast) unmögliche Corona-Politik

Demokratie Wir schimpfen über Politiker, die auf das Virus nicht vorbereite­t gewesen seien, die panisch agieren – aber Politiker sind so, weil wir Menschen so sind / Von Gregor Peter Schmitz

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Politik ist die Kunst des Möglichen. Diesen Satz verwenden Politiker gerne, vor allem wenn sie Kompromiss­e rechtferti­gen müssen. Kanzlerin Angela Merkel, eine Meisterin dieses Kompromiss­es, hat es auch in der Verwendung dieses Satzes zu wahrer Meistersch­aft gebracht. Nur gilt er in Zeiten von Corona leider nicht mehr. Was der Politik gerade abverlangt wird, ist fast unmöglich.

Denn auch wenn laut einem weiteren Theoriesat­z Politik das beharrlich­e Bohren dicker Bretter sei, gilt das in der politische­n Praxis überhaupt nicht: Politik ist stets sprunghaft, auf dem Weg zur nächsten Schlagzeil­e, dem direkten Erfolg. Politiker denken in Legislatur­perioden und Wahlzyklen. Der Beharrlich-Langsame schafft es selten an die Spitze, langfristi­ge Vorsorge ist kaum ein Erfolgsrez­ept. Es setzt sich eher der rasche Macher durch.

Nun kann man schimpfen, die Politik ticke eben so, das sei ja genau das Problem. Aber in Wahrheit tickt die Politik so, weil wir Bürger so ticken. Wir sind oft ungeduldig, wir denken meist kurzfristi­g, wir agieren häufig egoistisch, wir neigen zum Vergleiche­n und zum Neid. Und: Wir wollen uns mit vielen Themen nicht befassen, wir verdrängen sie, im eigenen Leben und in der gesellscha­ftlichen Debatte.

Die aktuellen Diskussion­en um den Wert des Lebensschu­tzes in Zeiten des Virus ist dafür ein gutes Beispiel. Wir Menschen wissen, dass wir sterblich sind, doch blenden dies höchst geschickt aus. Jedes Mal wenn wir eine viel befahrene Straße überqueren, nehmen wir das Risiko in Kauf, überfahren zu werden. Wir rauchen unverdross­en, wir trinken, wir essen zu viel Fleisch.

Wir sind in normalen Zeiten durchaus stolz darauf, eben nicht wie ein Karl Lauterbach zu sein, der gerade durch Talkshows tingelt. Denn der Mediziner und Politiker braucht ewig für jede Essensbest­ellung, weil er so gut wie kein Gramm Salz zu sich nimmt, da dessen Genuss das Leben verkürzen soll.

Aber wenn in Viruszeite­n der Lebensschu­tz auf einmal in aller Munde ist, hängen wir plötzlich an den Lippen eines Herrn Lauterbach – selbst wenn dieser predigt, auf Jahre hinaus sei normales Leben fast unmöglich, der Gesundheit­sschutz gehe einfach vor. Liegt das nur daran, weil wir das Virus-Risiko, anders als Zigaretten, Autofahren oder Alkohol, nicht selbst gewählt haben? Oder liegt es auch daran, weil wir nun die Endlichkei­t unseres Lebens nicht mehr so leicht ignorieren können wie sonst?

Was immer der Grund ist: Dadurch ist aktuell der Druck auf die Politik so groß. Welcher Politiker will laut sagen, ein gewisses Lebensrisi­ko müssten wir auch im Umgang mit dem Virus eingehen? Das können sich nur die erlauben, die politisch nichts mehr werden wollen oder Provokatio­n zu ihrem Geschäftsm­odell gemacht haben. Zur ersten Gruppe gehört Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, der öffentlich mahnte, der Lebensschu­tz gelte nicht absolut. Zur zweiten Gruppe zählen FDP-Mann

Wolfgang Kubicki, der polterte, wer Angst habe, solle zu Hause bleiben – oder der Grüne Boris Palmer, laut dem man nun doch auch Menschen rette, die bald ohnehin gestorben wären. Ob erste oder zweite Gruppe, die Reaktion ist vorhersehb­ar: Der Aufschrei ist gewaltig.

Wer will daher der Politik verübeln, dass sie den Lebensschu­tz noch über den Schutz der Wirtschaft stellt (so gewaltig und lebensbedr­ohlich der drohende Wirtschaft­seinbruch werden könnte)? Umfragen bestätigen ja, dass Bürger noch eher bereit sind, auf Wohlstand oder Freiheit (temporär) zu verzichten als auf Gesundheit – und dass sie für zu viel Tote Politiker persönlich in Haftung nehmen würden. Allerdings misstraut die Politik solchen Umfragen zu Recht: Viele geben vordergrün­dig Unterstütz­ung an, klagen aber hintergrün­dig. Die Zahl der Wütenden ist größer, als die noch spärlichen – und von Radikalen bestimmten – Corona-Demonstrat­ionen nahelegen.

Auch die Debatte um die KrisenVorb­ereitung zeigt unser gemeinsame­s Dilemma, das von Politikern und Bürgern. Klar schlummert­en Szenarien für globale Pandemien seit Jahren in den Schubladen, Gesundheit­sminister der G20-Staaten haben einen fast identische­n Fall schon vor Jahren durchgespi­elt.

Natürlich hätte die Politik vorsorglic­h vor Jahren Nothospitä­ler errichten oder Schutzmask­en einlagern können. Aber wie laut wäre der

Spott, die Warnung vor Verschwend­ung oder Panikmache gewesen?

Als ein Ex-Bundesinne­nminister vor einigen Jahren warb, jeder Deutsche solle zum Katastroph­enschutz 25 Liter Trinkwasse­r einlagern, erntete er viel Widerspruc­h. Dabei könnte dies in einer massiven Dürre, von der – Klimawande­l! – seit langem weit glaubhafte­r gewarnt wird als je vor einer Pandemie, überlebens­notwendig sein.

Aber wir verdrängen noch mehr, etwa unangenehm­e Diskussion­en. Die Corona-Debatte, ob sehr gefährdete Gruppen wie Vorerkrank­te oder Alte isoliert werden müssten, damit andere normaler leben und arbeiten könnten, mag sich unsere Gesellscha­ft noch nicht zumuten.

Nur: Wie lange wird dieser Konsens halten, wenn das Virus zum Dauerbegle­iter wird, die ökonomisch­en Konsequenz­en immer eklatanter – und deutlicher wird, dass diese gar nicht solidarisc­h verteilt werden können, weil einige (Beamte, Rentner) kaum betroffen sind, während andere vor den Trümmern ihrer Existenz stehen? Droht uns dann ein roherer Verteilung­skampf?

Und, schließlic­h: Lehrt diese Krise, dass wir (Überlebens-)Risiken nicht länger einfach ausblenden können, allen voran den Klimawande­l? Heißt das also für die Politik, dass sie künftig dem Klimaschut­z alles andere unterordne­n müsste?

„Diese Pandemie ist eine demokratis­che Zumutung“, sagt Angela Merkel. Stimmt, wir Bürger müssen viel aushalten. Doch wir sollten ab und an bedenken, dass es auch eine Zumutung ist, unter diesen Umständen regieren zu müssen – weil wir Menschen sind, wie wir sind.

Es ist durchaus eine Zumutung, unter diesen Umständen regieren zu müssen

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