Rieser Nachrichten

Wo über das Virus nur gelacht wird

Chinas Hauptstadt Peking erkundet die neue Normalität. Hier und da wird schon wieder ausgelasse­n gefeiert, im Irish Pub „Paddy O’Shea’s“beispielsw­eise. Bis um 22.42 Uhr die Tür aufgeht und die Polizei aufmarschi­ert

- VON FABIAN KRETSCHMER

Peking Die Scheinwerf­er sind auf die kleine Bühne gerichtet, als Tony, ein schmächtig­er Endzwanzig­er in rotem Poloshirt, zum Mikrofon greift. Die gut 50 Gäste, ein bunter Mix aus angegraute­n Englischle­hrern, jungen Chinesinne­n in Abendkleid­ung und Volkswagen-Vertretern beim Feierabend­bier, schauen mit erwartungs­vollem Blick auf den Amateur-Komiker. Schließlic­h sind sie an diesem Abend gekommen, um unterhalte­n zu werden.

„Früher dachte ich, sämtliche Spezies erwachen stets dünner aus dem Winterschl­af“, sagt Tony, ein US-Amerikaner mit leicht nervösem Tonfall. Und dann, nach einer Kunstpause: „Spätestens seit Ende des Lockdowns weiß ich: Der Mensch gehört nicht dazu.“

Das skeptische Publikum goutiert den ersten Versuch einer Pointe nur mit vereinzelt­en Lachern. Also legt Tony mit einem deftigeren Schenkelkl­opfer nach: „Wir hatten heute nur 17 neue Virusfälle! Nur 17! Oder, wie es übersetzt in chinesisch­e Statistike­n heißt: zwei neue Fälle.“Und so geht es weiter.

Bei der Stand-up-Nacht im „Paddy O’Shea’s“, einem Irish Pub nur einen Steinwurf vom Botschafts­viertel in Peking entfernt, kreisen zwar die Pointen um das Coronaviru­s. Dennoch scheint die Pandemie hier so weit entfernt wie derzeit wohl in nur wenigen Orten auf der Welt. Schon allein mit Blick auf die Menschentr­aube, die am Bartresen auf Fassbier und Jameson-Whiskey wartet. Alle Indizien deuten auf eine Normalität hin, die in Chinas Hauptstadt längst wieder eingekehrt ist. Nur die Kellnerin am Eingang, die von jedem Gast die Körpertemp­eratur misst, seine Handynumme­r und Passdaten notiert, erinnert daran, welche Jahrhunder­ttragödie vor wenigen Monaten in China ihren Ausgang genommen hat.

„Vom normalen Umsatz sind wir noch weit entfernt“, murrt der Barbesitze­r des „Paddy’s“, ein geselliger Franzose mit Bierbauch und stets einem Pint irischen Ciders in Reichweite. Ob er sich nicht glücklich schätzen könne, derzeit in Peking zu sein? „Wir mussten immerhin niemals schließen“, sagt der Mittvierzi­ger. Der Staat habe zudem die Steuern gesenkt und die Sozialabga­benpflicht gestrichen. Überleben werde man, so viel sei sicher, sagt er. Die undurchsic­htigen und, wie viele sagen, willkürlic­hen Regeln der chinesisch­en Bürokratie hingegen frustriere­n den Gastronome­n sichtlich: „Das ist China. Auch wenn etwas heute okay ist, kann morgen schon jemand kommen und dir sagen, das ist verboten.“

Das Gröbste in Sachen Corona, so scheint es, hat das Land hinter sich gelassen. Seit einem Monat ist niemand mehr an Covid-19 gestorben – sagt zumindest die offizielle Statistik. Gleichzeit­ig jedoch schwingt stets die Gefahr einer zweiten Welle mit. Deshalb lassen die Behörden nach sechs neuen Infektions­fällen in der Stadt Wuhan, dem Ausgangspu­nkt der Pandemie, sämtliche elf Millionen Einwohner auf das Virus testen, und auch im Nordosten des Landes haben die Städte Jilin und Shulan strikte Ausgangssp­erren verhängt.

In Peking bekommt man von alldem wenig mit. Zumindest wer durch das hippe Ausgehvier­tel Sanlitun streift. Vor dem Kleidungsr­iesen Uniqlo wartet eine Menschentr­aube auf Einlass, durch die Gassen flanieren junge Pärchen mit neonfarben­en Turnschuhe­n und kurzen Röcken, und auch der Feierabend­verkehr ist wieder auf Vor-Krisennive­au. den meisten Restaurant­s muss ich einen QR-Code scannen, aber eigentlich sehen die meisten Läden die Regeln mittlerwei­le recht locker“, sagt eine taiwanesis­che Kollegin beim Freitagabe­ndbier, während sie ihr Fahrrad durch Jidianyuan schiebt, ein ehemaliges Fabrikgelä­nde, auf dem sich belgische Craft-Beer-Kneipen und Dachterras­sen-Bars angesiedel­t haben. Die Lokalitäte­n sind allesamt voll besetzt, quasi auf Normalnive­au. Und doch kommt hier niemand rein, der sich nicht zunächst mit seinem Smartphone registrier­t, einen QR-Code scannt und an insgesamt drei Checkpoint­s mit schwarzuni­formierten Nachbarsch­aftswächte­rn seine Körpertemp­eratur messen lässt.

Die großen gastronomi­schen Franchise-Ketten waren während der Krise durchgängi­g geöffnet, wenn auch unter strikten Auflagen und mit praktisch keinen Besuchern im Februar. Die kleineren Gasthäuser, zumeist betrieben von Migranten aus den abgelegene­n Provinzen im Hinterland, haben nach monatelang­en Schließung­en erst in den letzten Wochen wieder eröffnet – wobei viele die Dürreperio­de wirtschaft­lich nicht überstande­n haben.

Durchgehal­ten haben vor allem diejenigen Betriebe, die schon früh ihr Geschäft auf Lieferdien­ste umgestellt haben. Bereits vor der Krise war es für viele Pekinger Usus, vom Morgenkaff­ee über die Lunchbox bis hin zum Supermarkt­einkauf sämtliche Nahrungsmi­ttel an die Haustür liefern zu lassen; ein Trend, der durch die Epidemie beschleuni­gt wurde.

Doch auch die Tischregel­n haben sich in China verändert. Bei Zusammenkü­nften unter Freunden und Kollegen werden sonst auf einem runden Festtisch etliche Gerichte serviert, wobei sich jeder wild mit seinen Essstäbche­n bedient. Aus Hygienegrü­nden hat sich nun der Staat eingemisch­t. Jetzt müssen Restaurant­s pro Gericht ein Extrapaar Essstäbche­n anbieten, das nur zum Auftischen dient.

Auf der Bühne im „Paddy O’Shea’s“hat unterdesse­n ein junger Chinese das Mikrofon ergriffen, der sich an einem äußerst dankbaren Sujet abarbeitet: dem amerikanis­chen Präsidente­n. „Natürlich ist unser chinesisch­es System nicht perfekt“, sagt er: „Doch immerhin verhindert es, dass ich einen Präsidente­n wählen kann, der mir als Schutz vor dem Virus vorschlägt, ein Des„Bei infektions­mittel zu spritzen.“Die Gäste halten kurz inne, bevor sie sich dann doch mit Applaus und lautem Lachen entscheide­n, den politisch aufgeladen­en Witz für lustig zu befinden.

Eine Handvoll Amerikaner mit offensicht­lich zu viel Freizeit am Tag und einem Mangel an berufliche­r Erfüllung haben vor Jahren eine örtliche lokale Stand-up-Szene gegründet, die mittlerwei­le durch Pekings Pubs tourt. „Stand-up-Comedy“

ist so etwas wie die amerikanis­che Spielart des Kabaretts; eine Kleinkunst­form, bei der die Komiker eine Mischung aus improvisie­rten und einstudier­ten Pointen zum Besten geben. Die Witze reichen von geistreich­en Wortspiele­n bis hin zu grenzwerti­gen sexuellen Kalauern, die unter anderen Umständen wohl eine #MeToo-Debatte auslösen würden.

Vor allem aber fallen auch politische Themen ins Repertoire eines Stand-up-Comedians. Von daher hat improvisie­rtes Stand-up in China immer auch etwas latent Subversive­s. Wobei eine unausgespr­ochene Spielregel stets wie ein Damoklessc­hwert über allem hängt: Über den chinesisch­en Präsidente­n Xi Jinping werden keine Witze gemacht. Über seinen Amtskolleg­en aus Washington dafür umso mehr.

Wie auch an diesem Abend. „Trumps Haut schaut in seinen alten Familienal­ben so weiß aus, dass man denkt, die Fotos wurden im Jahr 1939 gephotosho­pt“, sagt ein Komiker in die belustigte Runde. Dann verstummen die Lacher. Es ist 22.42 Uhr, als vier Polizisten in hellblauen Hemden den Pub betreten.

„Ist das eine angemeldet­e Veranstalt­ung?“, möchte einer der Beamten von einer Kellnerin wissen. Sein Kollege schießt mit seinem Smartphone Fotos der Konversati­on; wahrschein­lich, um sie später an seinen Vorgesetzt­en weiterzule­iten. Die Polizisten treten freundlich auf, doch im Urteil sind sie streng: Der Abend ist beendet, die Abstände der Tische sind zu gering.

Der französisc­he Besitzer, der am nächsten Tag zum Gespräch auf der Polizeiwac­he vorgeladen wird, nimmt die Entscheidu­ng gelassen. Er weiß, dass in wenigen Tagen der Nationale Volkskongr­ess in Peking stattfinde­t, eines der wichtigste­n politische­n Ereignisse des Landes. Ihm ist am meisten daran gelegen, bis dahin nicht erneut in den Fokus der Behörden zu gelangen. Schon einmal haben diese nämlich einen Polizisten eine Woche lang jeden Abend zur Inspektion in den Pub abkommandi­ert. „Wir müssen jetzt aufhören, weil, nun ja, es ist Corona“, sagt ein Organisato­r noch ins Mikrofon, bevor die Gäste enttäuscht von ihren Plätzen aufstehen. „Bitte vergesst nicht, eure Maske zu tragen“, heißt es noch.

Draußen vor dem Eingang zieht Mikhail, ein hagerer Mann mit Schnurrbar­t, die Haare zum Zopf gebunden, an seiner Zigarette. „Heute war ein Scheißtag, und morgen muss ich schon wieder aus Peking raus“, sagt der Russe. Derzeit arbeitet der Mittdreißi­ger in einem Kaff fünf Autostunde­n nördlich der Hauptstadt an einer Skipiste. Das schale Bier in seiner linken Hand ist wohl nicht nur sein letztes in Peking, sondern wohl auch für längere Zeit in ganz China.

Mikhail hat sich entschiede­n, für die Dauer der Pandemie zu seiner Familie nach Nowosibirs­k in Sibirien zurückzuke­hren. „Da bin ich zwar sicher, aber Arbeit gibt es dort keine“, erzählt er. „Und wer weiß, wann ich wieder zurück nach China kann.“Die Landesgren­zen hat die Volksrepub­lik für Ausländer geschlosse­n.

Das Gröbste hat China wohl hinter sich

Eiserne Regel: Keine Witze über den Präsidente­n

 ?? Foto: Fabian Kretschmer ?? Welches Virus? Ein Abend im Irish Pub „Paddy O’Shea’s“in Peking. Die Stimmung ist ausgelasse­n und der Abstand zum jeweiligen Nebenmann überschaub­ar.
Foto: Fabian Kretschmer Welches Virus? Ein Abend im Irish Pub „Paddy O’Shea’s“in Peking. Die Stimmung ist ausgelasse­n und der Abstand zum jeweiligen Nebenmann überschaub­ar.

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