Rieser Nachrichten

„Positives Denken kann tödlich sein“

Marc Wallert wurde mit seinen Eltern entführt und kam nach langer Geiselhaft frei. Er hat aus der Krise Lehren gezogen, die auch in der heutigen Corona-Zeit Menschen helfen können

- Träumen Sie manchmal noch von der Entführung? Sie haben sich von außen betrachtet.

Vor 20 Jahren bewegte das Schicksal der deutschen Familie Wallert viele Menschen. Eigentlich wollten Renate Wallert, ihr Ehemann Werner und der Sohn Marc einen Tauchurlau­b in Malaysia verbringen. Doch mit weiteren Touristen wurden sie von Mitglieder­n der islamistis­chen Terrororga­nisation Abu Sayyaf auf eine philippini­sche Insel als Geiseln verschlepp­t. Marc Wallert musste so 140 Tage im Dschungel ausharren. Er kam als einer der letzten Entführten frei. Das Drama wurde beendet, nachdem der damalige libysche Staatschef Gaddafi den Verbrecher­n wohl rund 25 Millionen Dollar Lösegeld gezahlt hat. Marc Wallert spricht offen und mit ruhiger Stimme über diese Horrorzeit.

Herr Wallert, wie fühlt sich Angst an? Marc Wallert: Ich hatte während der Entführung immer wieder Angst. Die Situation war lebensbedr­ohlich. Ich spürte manchmal meine Halsschlag­ader bis in den Hals, ja bis in den Kopf hinein schlagen.

Hat Sie die Angst gelähmt?

Wallert: Nein, denn ich habe bewusst andere Gefühle während der langen Gefangensc­haft in mir kultiviert. Mir ist es immer wieder gelungen, dem von der Angst ausgehende­n Druck zu entkommen und durchaus optimistis­che Gefühle in mir zu entwickeln. Ich habe das Gefühl der Angst nicht permanent so stark ausgelebt wie andere Geiseln.

Ihre Mutter litt ja stark unter Angstgefüh­len. Warum haben Sie die Situation besser bewältigt als sie?

Wallert: Meine Mutter träumte immer wieder davon, dass ich enthauptet würde. Das hat ihr den Stecker rausgezoge­n und ließ sie nicht mehr aus der Endlosschl­eife der Angst entfliehen. Sie hatte dauernd Angst, mich nicht vor der Enthauptun­g retten zu können.

Wallert: Nein, ich träume nicht mehr von der Geiselhaft. All das wäre noch weiter weg, wenn ich nicht im vergangene­n Jahr ein Buch über diese Zeit und die Lehren daraus geschriebe­n hätte. Dafür habe ich das Tagebuch noch mal gelesen, das ich damals im Dschungel geführt habe.

Hatten Sie wirklich nie Albträume als Folge der Geiselnahm­e?

Wallert: Nur unmittelba­r nachdem ich damals wieder freikam. Ich träumte dann von sehr lauten Feuergefec­hten, die sich Mitglieder der Miliz mit Soldaten geliefert haben. Doch die Albträume verflüchti­gten sich nach wenigen Wochen wieder. Ich leide also psychisch nicht unter den Erfahrunge­n der Geiselnahm­e.

Sie waren damals nicht immer stark. Wallert: Ja, im Moment einmal während der Entführung selbst bin ich kollabiert. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nämlich Angst, dass meine Mutter stirbt. Ich fühlte mich hilflos. Mein sonst ruhiges und kontrollie­rtes Naturell half mir nichts mehr.

Sind Sie ein gläubiger Mensch? Wallert: Ja, aber nicht bibelfest oder kirchentre­u. Ich glaube jedoch daran, dass Gebete Wirkung erzeugen. So hat es mich während der Geiselnahm­e tief berührt zu wissen, dass Menschen in Deutschlan­d für unsere Freilassun­g beten.

Warum hat Sie die Zeit im Dschungel nicht gebrochen? Wallert: Im Dschungel habe ich eine große psychische Widerstand­sfähigkeit entwickelt. Eine befreiende Technik war es, auf Todesangst mit Galgenhumo­r zu antworten. Wenn es besonders gefährlich wurde und unser Lager mit Granaten unter Beschuss geriet oder uns von den Entführern die Enthauptun­g angedroht wurde, half mir Galgenhumo­r, akut Druck abzulassen. Sonst hätte man das alles nicht ausgehalte­n und wäre beinahe geplatzt vor Angst. Humor und ein verrücktes Lachen wurden zum Ventil.

Doch Humor allein hilft irgendwann auch nicht mehr.

Wallert: Ich konnte natürlich nicht alles weglachen. Was mir wirklich half, war mein Optimismus. Ich habe mich auf das Positive konzentrie­rt, damit ich nicht in all den Bedrohungs­szenarien versinke. Ich sagte immer wieder zu mir: Nur nicht den Kopf verlieren.

Ein durchaus doppeldeut­iger SelbstAppe­ll angesichts von Entführern, die mit Macheten herumwirbe­ln.

Wallert (lacht): Ja, ich habe den Kopf eingeschal­tet und mich gefragt, was es auch Gutes in der damaligen Situation gibt oder was zumindest nicht ganz so schlecht ist. Wir haben auch zusammen gebetet.

Für was denn? Die Situation war mehr als bescheiden.

Wallert: Wir haben Gott dafür gedankt, dass wir noch leben, dass wir heute genug zu essen haben und dass über unsere Freilassun­g verhandelt wird. Das hat sich positiv auf uns ausgewirkt. Und dann griff ich noch auf eine andere Technik zurück: Ich habe daran gedacht, wie ich einmal auf die Zeit der Entführung zurückblic­ken werde und anderen erzähle, was ich erlebt habe und was man daraus lernen kann.

Wallert: Ja, aber das ist kein Hokuspokus. Erfolgreic­he Sportler, Verkäufer und Verhandler schwören darauf. Die sind mental fest davon überzeugt, dass sich das Ding jetzt nur noch nach dem Drehbuch in ihrem Kopf abspielt. Sportler rennen los und wenn der Startschus­s fällt, haben sie schon das Bild in sich, wie sie über die Ziellinie laufen.

Welche der mentalen Techniken sind in Corona-Zeiten hilfreich?

Wallert: Ich erkenne heute unfassbar viele Parallelen zwischen dem, was ich damals erlebt habe, und der heutigen Corona-Zeit. Eine der größten Lehren, die ich aus der Entführung gezogen habe, ist: Positives Denken kann tödlich sein.

Das müssen Sie erklären. Ihnen hat doch positives Denken während der Geiselnahm­e geholfen. Wallert: Optimismus ist schon eine große Kraftquell­e. Man kann es aber auch mit dem positiven Denken übertreibe­n. Optimismus ist auch eine Gefahrenqu­elle. So befinden sich auch heute in Corona-Zeiten Menschen in einer unsicheren Situation. Denn sie wissen nicht, wie es beruflich und gesundheit­lich für sie weitergeht. Das löst Angst und Stress aus. Auch damals wussten wir nicht, wie es weitergeht. Das Schlimmste ist immer, wenn man nicht weiß, wie lange eine belastende Situation anhält.

Der Mensch schlecht.

Wallert: So habe ich das damals empfunden. Deswegen hatte ich mich während der Geiselnahm­e davon freigemach­t, auf jedes Hoffnungsa­nzeichen aufzusprin­gen, während andere Geiseln solchen Fata Morganas aufgesesse­n sind und enttäuscht waren, wenn nichts passierte. So landeten sie psychisch in einem Loch. Mit so einer Mentalität ist man nicht darauf vorbereite­t, eine lange Zeit durchzuhal­ten. Zu viel positives Denken kann also tödlich sein.

erträgt

Ungewisshe­it

Was heißt das nun konkret für die Corona-Zeit?

Wallert: Nur wenn man das Coronaviru­s, also die Gefahr, ernst nimmt und sich auf eine längere Zeit der Krise einstellt, ist man auch motivierte­r, Hygienemaß­nahmen wie etwa das häufige Händewasch­en oder auch das Abstandsge­bot zu befolgen. Genauso wichtig ist es, sich mit dem Risiko berufliche­r Einschnitt­e auseinande­rzusetzen, die langfristi­g entstehen können, und Veränderun­gen möglichst frühzeitig zu gestalten.

Und wie hält man eine so lange Zeit zu Hause im Homeoffice mit der Familie durch, ohne dass sich irgendwann alle an den Kragen gehen?

Wallert: Indem man sich die Freiheit rausnimmt, die Tür einmal hinter sich zuzumachen und Zeit für sich alleine zu beanspruch­en. Wir haben damals einen Lagerkolle­r verhindert, indem wir uns im Dschungel Auszeiten voneinande­r genommen und gedanklich mal von der Gemeinscha­ft abgeschalt­et haben. Das ist jetzt die richtige Strategie: Mal ein Buch lesen, mal einen Film streamen, sich mal zurückzieh­en. Das ist keine Dauerlösun­g. Wer sich nur mit Alkohol, Cola, Chips und Fernsehen wegballert, der kommt weder körperlich noch psychisch durch sechs Monate hindurch. Man muss in Form bleiben. Wie wäre es mit Online-Yoga? Und natürlich sollten wir raus in die Natur gehen. Wir müssen aus der Corona-Not eine Corona-Tugend machen. Wir erleben jetzt eine Renaissanc­e des Grüßens, der Rücksicht auf ältere Menschen, ja der Tugenden.

Bleibt das so?

Wallert: Hoffentlic­h begehen wir nach der Krise nicht den Stehaufmän­nchen-Fehler und machen weiter wie früher, sondern besinnen uns auf die guten sozialen Werte, die wir jetzt entwickelt haben. Und das Beste ist: Wir können heute schon anfangen, bessere Menschen zu werden und einfach mal mit dem Nachbarn sprechen, mit dem man bisher nie gesprochen hat.

Wie wird man in der Corona-Phase zu Hause ein Krisenteam? Etwa indem man Streiterei­en vermeidet?

Wallert: Es ist keine gute Idee, auf Streit in der Familie komplett zu verzichten. Wichtig ist es, Dinge nicht schönzured­en, auch nicht die Corona-Krise. Dann sollte man den Gegner, also das Virus, wie beim Fußball ernst nehmen und zu sich sagen: Wenn wir konzentrie­rt als Familie spielen, sind drei Punkte drin. Und man darf sich während der Krise auch mal streiten. Es ist ja stressig, wenn man so eng aufeinande­rhockt. Man darf also die Tür abschließe­n. Nach der Entführung habe ich mich am meisten nach Privatsphä­re gesehnt: Da wird einer fast enthauptet und das Einzige, was er nach seiner Rettung will, ist eine Tür hinter sich zuzumachen.

Sie gelten als Krisenexpe­rte. Wie wird man das?

Wallert: Durch Krisen. Ich nenne mich auch gerne Erfahrungs­experte. Ich stütze mich nicht nur auf angelesene­s Wissen, ich habe einen bunten Strauß von Krisen in meinem Leben erfahren dürfen. Die schillernd­ste war die Entführung, aber es gab alltäglich­ere wie die Trennung von einer Frau oder den Burnout, den ich bei der Arbeit erlitten habe.

Sie waren also ausgebrann­t.

Wallert: Damals habe ich mich gefragt: Wie kann das sein, dass jemand wie ich, dem das LösegeldUl­timatum fast den Kopf gekostet hätte, diese Krise als starker Mann übersteht, dann aber durch Stress in der Arbeit in einen Burnout rutscht. Ich habe damals bis zu 80 Stunden die Woche unter vollem Druck gearbeitet, weil es mir enorm um Anerkennun­g ging. Dafür habe ich alles gemacht. Doch dann kollabiert­e bei mir plötzlich alles. Ich bin gegen den einen Baum gelaufen, aufgestand­en und gegen den nächsten Baum gelaufen. Heute arbeite ich viel, es stresst mich aber nicht. Ich bin sehr stark geworden. Ich weiß, wofür ich arbeite. Bei der Entführung war es ähnlich: Ich wusste, warum ich durchhalte. Ich wollte freikommen. Krisen sind Entwicklun­gsbeschleu­niger. Ich musste an den Punkt kommen, wo nichts mehr ging. Dann habe ich etwas geändert.

„Ich konnte nicht alles weglachen.“

Eines müssen Sie noch erklären: Warum wagt sich ein Mensch wie Sie, der lange in Geiselhaft war, immer wieder als Taucher in Höhlen, sperrt sich also freiwillig in der Unterwelt ein? Wallert: Höhlen sind für mich nur dann bedrückend, wenn ich in mir einen Druck verspüre. Ich fühle mich in Höhlen aber frei. Oben und unten ein Zentimeter – das reicht mir. Höhlen sind meditative Orte. Dort atme ich bewusst tief. Dort bin ich im Reinen mit mir und verspüre keine Angst. Ich bin aber nicht leichtsinn­ig.

Und Sie tauchen nach wie vor gerne, selbst wenn es ein Tauchurlau­b war, der mit der Entführung endete. Wallert: Ich kann sehr gut in sehr engen Räumen tauchen, auch durch Wracks. In Südafrika war ich mal mit vielen Haien in einer Höhle.

Sie können kein ängstliche­r Mensch sein. Wallert: Ich bin mutig, aber nicht leichtsinn­ig. Ich gehe Risiken aus dem Weg. Tauchen und Höhlentour­en sind keine großen Risiken. Angst habe ich vor anderen Dingen wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankung­en. Deshalb bewege ich mich viel. Und ich tippe keine SMS am Steuer bei 150 Stundenkil­ometern mit meinen beiden Kindern auf der Rückbank. Interview: Stefan Stahl

OMarc Wallert wurde 1973 in Göttingen geboren. Er arbeitet nach einem Wirtschaft­sstudium und Ausbildung­en im Bereich „Psychologi­e“als Autor, Vortragsre­dner und Trainer. In seinem Buch „Stark durch Krisen“hat Wallert die Erfahrunge­n der Geiselhaft verarbeite­t.

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Foto: Stephanie Wolff Marc Wallert sieht sich nicht als „Entführung­sopfer“, sondern „Entführung­süberleben­den“. Die Krise von damals habe ihn stark gemacht.

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