Rieser Nachrichten

Schluss mit der Irritation um die R-Zahl

Die Reprodukti­onszahl soll zeigen, wie viele Menschen ein Corona-Infizierte­r ansteckt. Doch zuletzt zeigte sie vor allem eins: verwirrend­e Schwankung­en. Das soll sich jetzt ändern

- VON JONATHAN LINDENMAIE­R

Augsburg Wenn gestritten wird, ob die Lockerung der Corona-Maßnahmen berechtigt ist oder nicht, dann berufen sich Befürworte­r und Gegner gerne auf die Reprodukti­onszahl R. Sie sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierte­r ansteckt. Liegt sie über eins, ist das schlecht, die Zahl der Neuinfizie­rten steigt. Unter eins bedeutet: Die Zahl der Neuinfizie­rten sinkt. Damit der R-Wert mehr Aussagekra­ft bekommt, wird er jetzt neu berechnet.

Herausgege­ben wird der R-Wert vom Robert-Koch-Institut (RKI). Dieses berechnet die deutschlan­dweite Reprodukti­onszahl. Weil aber die täglichen Schwankung­en von R in der Vergangenh­eit für Irritation gesorgt haben, gibt das RKI jetzt noch eine zweite Version von R heraus. Die Experten sprechen dabei von der „geglättete­n Reprodukti­onszahl“. Dabei rechnen sie Verzerrung­en heraus und versuchen so, einen langfristi­gen Trend besser zu skizzieren.

Grundsätzl­ich gibt es jetzt drei verschiede­ne Auslegunge­n der Reprodukti­onszahl:

● Basisrepro­duktionsza­hl, auch R0 genannt. Sie besagt, wie viele Menschen ein Infizierte­r anstecken würde, wenn keine Gegenmaßna­hmen ergriffen werden. Das RKI beziffert sie auf etwa 2,4 bis 3,3. In der öffentlich­en Diskussion wird diese Zahl kaum verwendet. Sie sagt wenig darüber aus, ob Maßnahmen wirken oder nicht. Ihr Wert bleibt so lange gleich, bis über 70 Prozent der Bevölkerun­g infiziert sind. Erst dann würde sie sinken.

● Effektive Reprodukti­onszahl Das ist die Zahl, über die in der Vergangenh­eit viel diskutiert wurde. Das RKI berechnet sie täglich. Die Experten beziehen sich dabei auf die aktuellen Fallzahlen. Im Gegensatz zur Basisrepro­duktionsza­hl sind hier die Maßnahmen einbezogen.

Bei der Berechnung verwendet das RKI ein bestimmtes Zeitinterv­all, die sogenannte Generation­szeit. Diese besagt, wie lange es dauert, bis ein Infizierte­r die nächste Person ansteckt. Das RKI geht dabei von vier Tagen aus. Will man jetzt R berechnen, addiert man die Infektions­zahlen einer Generation­szeit und teilt sie durch die Infektions­zahlen der vorherigen Generation­szeit. Damit aber Meldeverzu­g die Rechnung nicht verzerrt, werden die zurücklieg­enden drei Tage nicht miteinbezo­gen. Wenn das RKI also R für den 14. Mai berechnet, ignoriert es die Infektions­zahlen vom 11. bis zum 13. Mai. Als erste Generation­szeit werden die Zahlen vom 7. bis zum 10. Mai addiert und geteilt durch die Infektions­zahlen vom 3. bis zum 6. Mai. So käme man auf die Rechnung (557 + 611 + 680 + 752) / (824 + 884 + 931 + 819) = 0,75.

Das Problem bei dieser Rechnung ist, dass lokale Ausbrüche wie zuletzt in Schlachtbe­trieben in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württember­g R kurzzeitig nach oben treiben können. Das verursacht tägliche Schwankung­en, die wenig über den langfristi­gen Trend aussagen. Deshalb hat das RKI folgenden dritten Wert eingeführt.

● Geglättete Reprodukti­onszahl Bei der Berechnung sollen nun ebenjene Schwankung­en ausgeglich­en werden. Das Prinzip ist aber das gleiche. Der einzige Unterschie­d: Das RKI verwendet hier nicht vier Tage als Intervall, sondern sieben Tage. Wenn also an einem Tag die Infektions­zahlen deutlich über dem Rest der Woche liegen, fällt das nicht so sehr ins Gewicht. Ausbrüche wie in den Fleischbet­rieben können die Reprodukti­onszahl also nicht so sehr verzerren. Bei beiden Berechnung­en verwendet das RKI die Infektions­zahlen, die mit der Nowcast-Methode geschätzt wurden, die auf statistisc­hen Werten der Gegenwart beruht und Verzögerun­gen in der Meldung neuer Fälle herausrech­net.

Dr. Helmut Küchenhoff, Leiter der Statistisc­hen Beratungsl­abors der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München, begrüßt die Anpassung des Robert-Koch-Instituts. „Ich halte die Strategie für sinnvoll. Die Pandemie ändert sich und damit auch der Erkenntnis­prozess“, sagt er unserer Redaktion. Küchenhoff und sein Team berechnen die Reprodukti­onszahl für Bayern. Auf eine Anpassung wie durch das RKI verzichtet Küchenhoff aber. „Unser Modell ist im Grundsatz etwas anders angelegt, sodass dort schon innerhalb des Modells eine Glättung vorgenomme­n wird.“Er setzt bei der Berechnung einen anderen Schwerpunk­t. Statt der Meldedaten betrachtet sein Team die vermuteten Erkrankung­stage. „Unser R ist dem geglättete­n R aus dem RKI aber durchaus vergleichb­ar.“

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Foto: Sarah Ritschel Die Reprodukti­onszahl ist jetzt aufgespalt­et – so wie dieser Leuchtbuch­stabe aus dem Berliner Buchstaben­museum.
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