Die dunkle Seite des Paradieses
Schon mit „Haus des Geldes“hat Álex Pina gezeigt, dass er sich auf Serien versteht. Nun führt er auf die Ferieninsel Ibiza. Aber ist „White Lines“so stark wie sein Vorgänger?
Aus dem trüben, lustfeindlichen Manchester bricht Axel (Tom Rhys Harries) Ende der 90er Jahre mit drei Freunden auf nach Ibiza, ins Mekka der Techno-Szene. Ein Paradies, in dem der begabte DJ wie ein Gott gefeiert wird und in dem er das Leben und die Drogen in vollen Zügen genießt – bis er nach der eigenen Geburtstagsparty spurlos verschwindet. Zwanzig Jahre später, als die sterblichen Überreste schließlich gefunden werden, macht sich Axels jüngere Schwester Zoe (Laura Haddock) nach Ibiza auf, um endlich Klarheit über den Tod ihres Bruders zu bekommen.
Aber bis zur finalen Aufklärung ist es ein weiter Weg, schließlich befinden sich Zoe und ihr Publikum in der neuen zehnteiligen Netflix-Serie „White Lines“von Álex Pina, der für den Welterfolg von „Haus des Geldes“verantwortlich zeichnet. Der Mann weiß, wie man die Zuschauer über lange Erzählstrecken kunstvoll bei der Stange hält.
Zoe trifft auf Ibiza die Weggefährten ihres Bruders, die damals wie heute ihrem ausschweifenden Lebensstil nachgehen. Als Ü40er legt Marcus (Daniel Mays) zwar immer noch in Clubs auf, aber er muss sein DJ-Einkommen mit nebenberuflichem Kokainhandel aufstocken. Seine Frau Anna (Angela Griffin) hat ihn verlassen und verdient gutes Geld mit der Organisierung von High-End-Orgien. ExJunkie David (Laurence Fox) macht auf Guru, der seine zahlende Kundschaft mit Rebirthing, Mescalin und Krötenextrakt durch den Selbstfindungsprozess geleitet. Und dann sind da noch die Calafats – eine der reichsten und einflussreichsten Familien der Insel, die mit dem Bau eines Casinos Ibiza in ein zweites Monte Carlo verwandeln wollen.
Eine illustre Figurenaufstellung mit großem Entwicklungspotenzial präsentiert Pina in „White Lines“. Auf der einen Seite die alt gewordenen Techno-Hippies, die in jungen Jahren den strahlenden Höhepunkt ihres Lebens hatten und die eigenen Schuldverstrickungen am Tod des Freundes weggekokst haben. Auf der anderen Seite ein Familienclan von schriller Dysfunktionalität, die von kriminellen Machenschaften bis hin zum Inzest bestes TelenovelaFutter bietet.
Das Konzept, das munter Familiensaga, Whodunit-Plot, Romanze, Actionelemente und ein gerüttelt Maß an Lifestyle-Voyeurismus verquirlt, könnte gerade in CoronaZeiten Quote machen. Denn die Bilder von malerischen Urlaubsstränden, durchgefeierten Club-Nächten und wilden Orgien erscheinen angesichts Infektionsschutzverordnungen und Reiseverboten wie das Fresko einer längst vergangenen Ära. Da kommt echte HedonismusNostalgie auf.
Darüber hinaus sorgt die absolut nicht lineare Erzählweise für die dynamische Sogwirkung, mit der Pina schon in „Haus des Geldes“punkten konnte. Allerdings fehlt den Charakteren und auch der Story die anarchistische Dramatik des Vorgängerwerkes. Das betrifft vor allem die weibliche Zentralfigur der unschuldigen Schwester, der es erheblich an Feuer und Eigeninitiative mangelt, aber auch die unbefriedigende Schlussauflösung, die nach einer spektakulären Party wie eine feucht gewordene Silvesterrakete verpufft.