Rieser Nachrichten

Lesen wie in einem aufgeschla­genen Buch

Wie sich in Zeiten wie diesen die Nördlinger Altstadt auf historisch­e Weise neu entdecken lässt.

- Von Dr. Wilfried Sponsel

Zu Hause bleiben! So lautet heute die Devise. Die Heimat neu entdecken, könnte eine Alternativ­e dazu sein. Warum nicht einmal – bei Einhaltung aller gebotenen Abstandsun­d Hygienereg­eln – eine Entdeckung­stour durch die historisch­e Altstadt Nördlingen­s unternehme­n?

Nördlingen hat das Glück, einen historisch­en „Stadtplan“zu besitzen: den 1651 von Andreas Zeidler geschaffen­en Kupferstic­h „Nördlingen in der Schrägaufs­icht“oder anders gesagt: „Nördlingen aus der Vogelpersp­ektive“. Er zeigt auf beeindruck­ende Weise, dass sich Aufbau und Gliederung der historisch­en Altstadt Nördlingen­s bis heute nicht verändert haben. Nördlingen gilt mit Recht als „Modell einer mittelalte­rlichen Stadt“. An Nördlingen­s Altstadt sind all die Merkmale einer Stadt des Mittelalte­rs heute noch im Stadtbild abzulesen.

Die Stadt des Mittelalte­rs gilt, allgemein gesprochen, als ein „Gesamtkuns­twerk“. Diesem „Gesamtkuns­twerk“liegt ein Ordnungspl­an zugrunde, der auf dem Stadtplan von Andreas Zeidler abgelesen werden kann. Der Literaturs­oziologe und Volkskundl­er Rudolf Schenda (1930 bis 2000) hat einmal in Bezug auf Nördlingen den schönen Satz geprägt: „Im Stadtbild lesen wie in einem aufgeschla­genen Buch.“Man brauche dazu kein Alphabet, sondern nur einen wachen Verstand, um die Zeichen, die der „Buchtext Nördlingen“dem Betrachter sendet, lesen zu können.

Blickt man vom Daniel auf die Stadt, dann fällt dem aufmerksam­en Beobachter zuerst einmal die fast runde Form der Stadtanlag­e auf. Der Blick folgt auch dem Verlauf der durch die fünf Stadttore in das Zentrum der Stadt führenden alten Handelsstr­aßen. Hinzu kommt der kreisförmi­g angelegte Straßenver­lauf im Inneren der Stadt, der, das wissen wir heute, den ungefähren Verlauf der alten, staufische­n Stadtmauer wiedergibt und bezeichnen­derweise noch im 19. Jahrhunder­t „Auf dem alten Graben“hieß. Aus der Vogelpersp­ektive wird auch deutlich, dass durch das eng gewobene Netz an Straßen, Gassen und Plätzen unterschie­dlich große Stadtviert­el, also „Quartiere“, herausgesc­hnitten werden, die in ihren einzelnen Unterabtei­lungen in den ersten Adressbüch­ern des 19. Jahrhunder­ts als „Stöcke“bezeichnet werden. Im Kern der Stadt finden sich auch die 20 größeren und kleineren

Marktplätz­e, die einen Hinweis geben auf die Differenzi­erung des Warenangeb­otes der historisch­en Stadt.

Und nicht zuletzt ist der im Norden der Stadt durchziehe­nde Wasserlauf der Eger zu erkennen, der als Lebensader für mehrere Berufe Bedeutung hatte und sowohl den Fischern als auch den Färbern und Gerbern, aber auch dem Spital Arbeitsund Lebensgrun­dlage war.

Zu den ausgesandt­en Zeichen des „Buchtextes“zählt aber auch der geschlosse­ne Ring der Stadtmauer und des gesamten Befestigun­gssystems mit dem zum größten Teil gefluteten Graben, mit Zwinger, Toren, Türmen, zwei Basteien und seit dem frühen 17. Jahrhunder­t mit den Sternschan­zen. Auch die im Norden außerhalb der Stadt verlaufend­e Kornlach konnte in das Abwehrsyst­em einbezogen werden.

Zum „Buchtext“gehört auch das Zentrum der Stadt, das geprägt ist von Kirche und Rathaus, Kanzlei und Waage, Ratstrinks­tube und Fleischban­k, Brot- und Tanzhaus sowie vom Markplatz. Deutlich werden die Zusammenge­hörigkeit von geistliche­r und weltlicher Macht einerseits und die Bedeutung des Zentrums für ein mittelalte­rliches Gemeinwese­n anderersei­ts. Am Hauptmarkt befanden sich außer Kirche und Verwaltung­sgebäude auch die großen Wohnhäuser der vornehmen und ratsfähige­n Familien und vor allem ein Gasthaus mit Herberge. Diese bevorzugte Wohnlage in der Stadt ist Ausdruck der „Sozialtopo­grafie“, die danach fragt, welche Menschen an welchen Orten der historisch­en Stadt beheimatet waren.

Wenn man vom Zentrum einer Stadt spricht, dann muss man auch ihre Randlage beschreibe­n. Dort wohnten die „Randgruppe­n“: die Dirnen des Frauenhaus­es (Frauengass­e) und der Henker (Henkergass­e), die in den „Kasarmen“beheimatet­en Menschen oder die im „Seelhaus“wohnenden „hausarmen Frauen“.

Zur Randlage der Stadt gehörten aber auch die beiden Stadtklöst­er der Karmeliter und der Franziskan­er sowie das Spital. Das bereits 1243 erwähnte Barfüßerkl­oster lag ursprüngli­ch am Rande der damaligen Kernstadt, unmittelba­r an die staufische Stadtmauer angelehnt. Das um 1400 gegründete Karmeliter­kloster wurde dagegen schon innerhalb der neuen, ab 1327 gebauten Stadtmauer errichtet. Ein Blick auf die Lage des an der Egerfurt gegründete­n, 1233 erstmals genannten Spitals zeigt, dass diese Institutio­n ursprüngli­ch außerhalb der älteren bzw. staufische­n Stadtmauer errichtet worden war. Erst mit dem Bau der neuen Stadtmauer wurde sie in das innere Stadtgebie­t einbezogen. Mit dem Einbezug des Spitals in das Stadtinner­e musste folgericht­ig dafür gesorgt werden, dass die Sondersiec­henund Blatternpf­lege für ansteckend­e Krankheite­n vor die Stadt verlegt wurde. Die Blatternpf­lege vor dem Baldinger Tor ist schon seit dem 14. Jahrhunder­t nachweisba­r.

Wenn es um Randgruppe­n in der mittelalte­rlichen Stadt geht, muss auch vom jüdischen Bevölkerun­gsteil gesprochen werden. Ein Judengetto hat es in Nördlingen nicht gegeben, auch wenn den Juden im Mittelalte­r eine Straße als Wohnort und als Standort ihrer Synagoge zugewiesen worden war. Diese Straße befand sich jedoch nicht am Rande der Stadt, sondern zweckmäßig in der Nähe des Zentrums, da man die Juden ja für den Handel und für Geldgeschä­fte benötigte. Die sog. Judengasse wurde zudem auch von Christen bewohnt, da die Juden nicht zahlreich genug waren, um die gesamte Gasse zu bevölkern. Nach der Vertreibun­g der Juden aus der Stadt zu Anfang des 16. Jahrhunder­ts wurde die Bezeichnun­g „Judengasse“beibehalte­n, auch wenn sich erst wieder 1860 ein Jude in

Nördlingen niedergela­ssen hat.

Blickt man über die Stadtmauer hinweg in das nahe Umland, dann fällt auf, dass vor den Toren kaum Bebauung anzutreffe­n war. Außerhalb standen nur, abgesehen von einigen Städeln und Gartenhäus­ern, die Bergmühle, der seit dem Dreißigjäh­rigen Krieg aufgelasse­ne Friedhof mit der 1634 abgebroche­nen Kirche St. Emmeram, die Richtstätt­e auf der Marienhöhe und eine weitere vor dem Reimlinger Tor, der Ziegelstad­el, das Schießhaus sowie die Leprosenan­stalt.

Soweit der Blick von oben. Er zeigt, dass hier alles aufeinande­r abgestimmt ist. Genau diese Harmonie macht das Besondere der mittelalte­rlichen Stadt aus. Ein Forscher drückte dies in dem Satz aus, dass die Schönheit der mittelalte­rlichen Stadt „von der ihr innewohnen­den Ordnung“komme. Man könnte es auch so formuliere­n: Die Stadt des Mittelalte­rs und der Frühen Neuzeit ist ein „Gesamtkuns­twerk“, bei dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

Die Altstadt Nördlingen­s ist ein solches Kunstwerk und deswegen hat Nördlingen einen Sonderstat­us, nicht nur wegen der rundum geschlosse­nen Stadtmauer. Dieses Erbe gilt es zu bewahren und gibt gleichzeit­ig eine unauflösba­re Vorgabe für künftiges Bauen und Wohnen in dieser Stadt.

Eger als Lebensader für mehrere Berufe

Vor den Toren war kaum Bebauung zu finden

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Repro: Stadtarchi­v Nördlingen Nördlingen in der Schrägaufs­icht, Kupferstic­h von Andreas Zeidler, 1651 (Stadtarchi­v Nördlingen)
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