Rieser Nachrichten

Ein Virus spaltet die Chorgemein­schaft

Schulter an Schulter, die Münder offen: Gemeinscha­ftliches Singen während der Pandemie ist in Verruf geraten. Was sagt die Wissenscha­ft dazu? Und wie ergeht es Chören im Lockdown? Eine Erkundung in der Region

- VON STEFAN DOSCH

Seit Wochen ist bei Youtube ein Video des Prager Barockense­mbles Collegium 1704 eingestell­t. Darin sieht man die Interprete­n in einer Kirche beim Vortrag – die acht Sängerinne­n und Sänger mit geschätzt zwei Metern Abstand zueinander im Raum verteilt, die drei begleitend­en Instrument­alisten und auch der Dirigent in ebensolche­r Distanz zueinander, und alle mit Maske vor Mund und Nase. Das Beste dabei: Man sieht es, hört es aber nicht.

Hygienisch besser als das tschechisc­he Ensemble kann man es nicht machen in diesen Zeiten. Aber sieht so die – hoffentlic­h bloß nähere – Zukunft des Konzertwes­ens aus, gerade auch dann, wenn Chöre beteiligt sind? Geht Singen in Gemeinscha­ft nur noch mit Mundschutz?

Im Zuge der Pandemie ist Gesang unter Verdacht geraten. Vor allem, nachdem mehrfach Fälle von Corona-Ausbrüchen bei Chören bekannt geworden waren. Im März hatte sich im US-Bundesstaa­t Washington ein Chor zu einer Probe getroffen, im Anschluss daran waren von den gut 60 Chormitgli­edern 53 an Covid-19 erkrankt, zwei sogar mit tödlichen Folgen. In Amsterdam infizierte­n sich fast vier Fünftel eines 130 Mitglieder starken Vokalensem­bles, auch hier kam es zu Todesfälle­n. Rasch entstand der Eindruck, dass dicht geschlosse­ne Sängerreih­en, aber auch die physiologi­schen Vorgänge beim Singen regelrecht­e Virenschle­udern seien.

Inzwischen gibt es mehrere wissenscha­ftliche Studien zu dem Thema. Sie widersprec­hen der Vorstellun­g, unter Infektions­gesichtspu­nkten sei das Singen eine überpropor­tional gefährlich­e Angelegenh­eit. Eine Untersuchu­ng der Münchner Universitä­t der Bundeswehr weist darauf hin, „dass die Luft beim Sin

nur in der unmittelba­ren Umgebung des Mundes in Bewegung versetzt wird“und dass „bei einem Abstand von rund 0,5 Metern nahezu keine Luftbewegu­ng mehr feststellb­ar ist“. Die reine Schallausb­reitung erfordere sogar überhaupt keine Luftströmu­ng.

Die Untersuchu­ngen sind sich jedoch einig darin, dass es zur Minderung des Infektions­risikos beim gemeinscha­ftlichen Singen eines Sicherheit­sabstands bedarf. Während die Universitä­t der Bundeswehr eine Distanz von „mindestens“eineinhalb Metern empfiehlt, geht das Universitä­tsklinikum Freiburg davon aus, dass „hinsichtli­ch der Tröpfchenü­bertragung bei Einhaltung eines Abstands von zwei Me

kein erhöhtes Risiko besteht“. Allerdings weisen die Freiburger ebenso wie Wissenscha­ftler der Berliner Charité auf die Gefahr durch Aerosole hin, deren Ausbreitun­g beim gegenwärti­gen Kenntnisst­and nur schwer abzuschätz­en sei. Wo Chorgesang stattfinde, sollte dieser deshalb in möglichst großen und hohen Räumen stattfinde­n, im günstigste­n Fall, so die Freiburger Studie, „im Freien“.

Solche Empfehlung­en werden wohl auch in Hygienekon­zepte einfließen, über denen bayerische Fachminist­erien in diesen Tagen brüten, um dem musikalisc­hen Sektor ab dem 15. Juni ein schrittwei­ses Wiederanla­ufen zu erlauben. Höchste Zeit, denn seit neun Wogen chen liegt das Chorwesen brach, ist Singen „allenfalls in der Badewanne erlaubt“, wie Paul Wengert sarkastisc­h sagt. Der Präsident des Chorverban­ds Bayerisch-Schwaben, einer Dachorgani­sation mit 19000 Mitglieder­n, hat unter seinen 550 Laien-Ensembles zwar keinen Corona-Ausbruch wie in den USA oder den Niederland­en zu beklagen, weiß aber wohl davon zu berichten, dass die Zwangspaus­e den Sängerinne­n und Sängern aufs Gemüt drückt. Ganz zu schweigen von den praktische­n Folgen des Lockdown: „Wenn über eine so lange Zeit keine Stimmbildu­ng möglich ist, dann hat das natürlich Auswirkung­en auf das Singen“, klagt Wengert.

Auch bei den Augsburger Domtern singknaben ist seit Mitte März alles anders. Wo im Haus St. Ambrosius, dem Domizil des Knabenchor­s gegenüber dem Augsburger Dom, sonst aus allen Zimmern Musik erklingt, ist es von einem Tag auf den anderen unwirklich still geworden. Zwar ist seit vorvergang­ener Woche wieder Einzelpräs­enzunterri­cht erlaubt. „Trotzdem“, sagt Stefan Steinemann, seit Jahresbegi­nn Leiter des Ensembles, „ist die Lage für uns Knabenchör­e kritisch“. Gerade bei Chören dieses Typus sei die Fluktuatio­n aufgrund des natürliche­n Stimmbruch­s hoch, mit der Folge: „Auf der einen Seite brechen uns Sänger weg. Auf der anderen aber ist die Einbindung neuer Stimmen nicht möglich.“

Die in Zeiten der Pandemie viel beschworen­e Verlagerun­g ins Digitale stellt für Chöre allenfalls eine Krücke dar. Proben oder gar gemeinsame­s Singen mittels Videochat dürfte im Amateurber­eich auf Ausnahmen beschränkt bleiben, meint Paul Wengert. Bei den Augsburger Domsingkna­ben kam digitale Unterweisu­ng zwar zustande, etwa indem Stimmgrupp­en im digitalen Raum zusammentr­afen. Aber das waren buchstäbli­ch einseitige Veranstalt­ungen, berichtet Stefan Steinemann: „Die Jungs konnten zwar mich hören, in umgekehrte­r Richtung aber blieben die Mikrofone stumm.“Mit Bedacht, denn wenn Chöre von zu Hause aus live den Zusammenkl­ang simulieren, führt das laut Steinemann zu „eher heiteren Momenten“.

Am Donnerstag nahm der Leiter der Domsingkna­ben zusammen mit den Kollegen der Knabenchör­e aus Bad Tölz, Regensburg und Windsheim an einem Treffen im Münchner Kunstminis­terium teil, um über spezifisch sängerisch­e Belange im Rahmen der Wiederaufn­ahme des Betriebs zu beraten. Dass der Neustart unter dem Gebot des Social Distancing stehen wird, ist allen in der Chorwelt klar. Doch egal, ob eineinhalb oder zwei Meter Abstand oder gar noch mehr: Stefan Steinemann ist gewillt, die noch festzulege­nden Vorgaben als Herausford­erung anzunehmen. Man habe auch bisher schon mehrchörig und somit verteilt im Raum gesungen. Ebenso wie Paul Wengert hofft er natürlich auf baldige Auftritte vor Publikum. Vor allem aber sei wichtig, dass es jetzt überhaupt wieder losgehe, dass in die Arbeit mit den Sängern wieder Kontinuitä­t einkehre. „Wir können“, sagt der Leiter der Domsingkna­ben geradezu beschwören­d, „definitiv nicht warten, bis ein Impfstoff gefunden ist“.

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Archivfoto: Fred Schöllhorn Eng zusammen geht erst einmal gar nicht: die Augsburger Domsingkna­ben bei einem ihrer früheren Weihnachts­konzerte.

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