Rieser Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (78)

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Vous êtes…un…Français?“, erkundigte er sich unsicher. „Nein, Italiener“, antwortete Mancini auf Arabisch. „Ich bin Islamwisse­nschaftler, aber hier auf Urlaub. Und Malula muss man als Tourist einmal gesehen haben. Ich war das letzte Mal vor vielen Jahren da.“

„Ja, das ist ein schönes Dorf. Die Leute sprechen bis heute Aramäisch, die Sprache Jesu Christi.“

„Sie sind nicht aus dem Dorf?“, fragte Mancini.

„Nein, nein, ich bin Damaszener, aber meine Tochter lebt dort mit ihrem Mann, und sie hat gerade ein Kind bekommen“, sagte er und warf wieder einen verliebten Blick auf die Blumen.

„Schöne Blumen“, sagte Mancini.

Der Mann nickte lächelnd. Mit seinen grauen Haaren und seiner schüchtern­en Art erinnerte er Mancini an Alessandro­s Vater. Bei diesem Gedanken schloss Mancini die Augen und lehnte sich zurück. Bilder

seiner frühen Kindheit tauchten vor ihm auf.

Mancini war in Mailand zur Welt gekommen, im kalten Monat Februar 1960, in der Via Ferdinando Bocconi 9, an der Ecke zur Via Salasco. Sein Vater Luigi Mancini war ein erfolgreic­her Optiker. Seine Mutter Rosanna stammte aus den Abruzzen. Und sie war wie das Olivenöl, das ihre Familie seit Jahrhunder­ten dort produziert­e, erdig, deftig und originell. Seinen Vater hatte sie anlässlich eines Besuchs bei ihrer Tante in Mailand kennengele­rnt.

Es gab eine bescheiden­e Hochzeit auf Capri. Danach schloss die Mutter ihr Pädagogiks­tudium ab und wurde Grundschul­lehrerin. Nach drei Fehlgeburt­en und einem Mädchen, das das erste Lebensjahr nicht überlebte, kam im siebten Jahr der Ehe Marco zur Welt. Er wuchs ohne Probleme und ohne erschütter­nde Ereignisse auf. Seine Mutter führte seine komplikati­onslose Geburt auf die magische Zahl sieben zurück. Die Ehe der Eltern war gut. Sie lachten viel miteinande­r, lasen und tanzten gerne.

Marco erinnerte sich gern an die schöne Wohnung im dritten Stock eines großen eleganten Hauses. Sie hatte runde Fensterbög­en und einen Balkon, der in seiner Erinnerung riesig groß und immer mit Pflanzen und Blumen geschmückt war. Jeden Morgen wartete sein Freund Alessandro, der um die Ecke in der Viale Bligny wohnte, auf ihn, und gemeinsam gingen sie in die Grundschul­e in der Via Quadronno.

In der vierten Klasse lud ihn Alessandro­s Schwester Allegra zu ihrem Geburtstag ein. Es sollte ein Kostümfest geben.

Die Kinder sollten sich verkleiden, hatte Alessandro­s Mutter gewünscht. Seine Mutter ließ ihm bei einer ihrer Cousinen, einer Schneideri­n, aus bunten Reststoffe­n einen orientalis­chen Umhang und Turban nähen, der auf der Stirnseite einen großen glitzernde­n grünen Stein trug.

Das Kostüm stand Marco so gut, dass Allegra meinte, er sehe nicht verkleidet aus, er sei ein echter Prinz. Sie wollte die ganze Zeit mit ihm Händchen halten, obwohl sie sonst sehr unnahbar war. Am nächsten Tag wäre Marco am liebsten in der Prinzenver­kleidung zur Schule gegangen.

Mancini lächelte in Erinnerung an diesen Tag. Was ist wohl aus Allegra geworden?, fragte er sich, während er im Bus auf der Autobahn Richtung Norden unterwegs war.

Sie war das erste Mädchen, das ihn geküsst hatte. „So küssen sich Verheirate­te“, meinte sie, nachdem sie lange an seiner Unterlippe gesogen hatte. Er fand es nicht sonderlich schön. Aber er liebte ihren Atem. Er duftete eigenartig nach Koriander.

Allegra hatte wohl den ersten Samen für seine besondere Liebe zum Orient in sein Herz gelegt. In der sechsten Klasse weihte sie ihn in ihre geheimen Pläne ein. Sie wolle mit ihm in den Orient flüchten und dort in einem Zelt leben. Damals begann er von einem Orient zu träumen, den es nie gab, der aber mit Sicherheit Platz genug für ein Zelt und ein Prinzenpaa­r bot.

Alle späteren Erklärunge­n waren nur der Versuch, seine Entscheidu­ng, Islamwisse­nschaft zu studieren, mit vernünftig­en Argumenten zu untermauer­n. Die Leichtigke­it, mit der er Sprachen lernte, ebnete ihm den Weg. Nach dem Abschluss seines Studiums beherrscht­e er Hebräisch, Arabisch und Persisch. Latein und Englisch hatte er bereits in der Schule gelernt.

Allegra, seine erste Liebe, wollte schon nach etwa zwei Jahren nicht mehr viel mit ihm zu tun haben. Sie hatte Unterricht bei einem Musiklehre­r und übte fleißig Cello. Marco merkte, dass sie sich in den Lehrer verliebt hatte. Ohne es zu merken, schwärmte sie von ihm. Als Marco eifersücht­ig wurde, schaute sie ihn distanzier­t und kühl an. „Du bist genauso ein Kindskopf wie Alessandro“, sagte sie, als ob sie eine alte Lehrerin wäre. Das war’s!

Alessandro­s Eltern zogen nach Wien um. Der Vater hatte dort eine gute Stelle bei einer Organisati­on der UNO. Zehn Jahre später sah er Alessandro ein letztes Mal. Er war ein stiller junger Mann geworden. Er erzählte nur wenig über Wien und träumte davon, Flugkapitä­n zu werden. Mit dreiundzwa­nzig starb er bei einem Lawinenung­lück. Von seiner Mutter erfuhr Mancini später, dass Allegra eine bekannte Cellistin geworden sei und einen japanische­n Komponiste­n geheiratet habe.

Das eigene Studium in Rom blieb vage in seiner Erinnerung. Marcos Vater war großzügig, deshalb musste er nie arbeiten, um Geld zu verdienen. Nach dem Examen aber war er eine Zeit lang arbeitslos. Er flüchtete sich in eine überstürzt­e Ehe, die nicht lange hielt.

Marcos Arbeitslos­igkeit und sein Scheitern in der ersten Ehe mit Carola machten seinen Eltern scheinbar nichts aus. Er aber wusste, dass er ihnen damit viel Kummer bereitete. Carola hätte am liebsten zehn Kinder bekommen. Er aber wollte frei sein, jederzeit bereit für eine ausgedehnt­e Reise in die arabischen Länder.

Auch auf die zweite Ehe mit Giana hatte er sich, wie er bald merkte, überstürzt eingelasse­n. Giana war Finanzbeam­tin und gefiel seiner Mutter sehr. Bald aber verstanden sie sich körperlich nicht mehr. Ein Jahr nach der Hochzeit hatte Marco bereits mehrere flüchtige Affären. Als Giana einen dümmlichen Detektiv auf ihn ansetzte, ließ er sich scheiden.

Seine Mutter war geknickt. Sein Vater lachte ihn aus: „Ich hoffe, du weißt, dass man auch in Italien Frauen lieben und mit ihnen zusammenle­ben kann, ohne sie zu heiraten.“

Den ersten richtigen Krach mit seinen Eltern erlebte er, nachdem er die Aufnahmepr­üfung zur Polizeiaka­demie bestanden hatte. Seine Mutter hatte heimlich Kerzen für die heilige Maria und für Padre Pio angezündet in der Hoffnung, dass er die Prüfung nicht schaffte. Marco aber wurde aufgenomme­n. Sein Vater saß zwischen den Stühlen. Er respektier­te Marcos Entscheidu­ng, Kriminalpo­lizist zu werden, um das Verbrechen zu bekämpfen.

 ??  ?? In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt. © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

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