Wenn Politik an ihre Grenzen stößt
Die Infektionszahlen steigen, die Nervosität wächst. Doch was können die Regierenden tun? Mit Mahnungen und Drohungen versuchen sie, Unheil abzuwenden. Angstmache nennen das die einen. Kümmern die anderen
Augsburg Die Mienen sind ernst. Als Angela Merkel in dieser Woche gemeinsam mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vor die Kameras tritt, ist von Zuversicht wenig zu spüren. Der CSU-Mann hat tiefe Schatten unter den Augen, legt sein gesamtes politisches Gewicht in die Waagschale – wenn jetzt nicht alle mitziehen würden, drohe ein zweiter Lockdown. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller beschwört die Bilder eines Massengrabs herauf, das vor Manhattan ausgehoben wurde. Mit jeder neuen Wasserstandsmeldung der steigenden Corona-Zahlen verschärft sich der Ton. Und steigende Zahlen, die gibt es täglich. Zugleich zeigen die Gerichte der Politik ihre Grenzen auf: Das Beherbergungsverbot, das Tourismus aus innerdeutschen Risikogebieten einschränkt, wurde inzwischen bereits in drei Bundesländern gekippt, in Bayern von der Politik aufgehoben. Die Sperrstunde wurde in Berlin von der klagenden Gastronomie zu Fall gebracht.
Auch die Gründe für das Anwachsen der Infektionszahlen sind inzwischen kaum mehr nachvollziehbar. Touristen machen nur einen kleinen Teil der Statistik aus, ein deutlich größerer ist kaum zu überblicken: Fitnessstudio, WG, Schule, Wohnzimmer – es sind nicht mehr die großen Fälle, sondern viele kleine Glutnester, die der Politik die Hölle heißmachen.
„Was wir seit Beginn der CoronaKrise aber beobachten, ist ein Überbietungswettbewerb im Verbieten“, sagt der Berliner Demokratieforscher Wolfgang Merkel im Interview mit der Zeit. Er wirft der Politik ein „Regieren durch Angst“vor – Übervorsicht sei wichtiger als Freiheit. Sein Urteil: „Es ist ein Sättigungsgrad in der Bevölkerung erreicht“, sagt Merkel. „Sie ist jetzt ein halbes Jahr lang dauernd mit apokalyptischen Szenarien und ständig wechselnden Berechnungen und Regeln beschossen worden, das macht auf Dauer müde.“
Zumindest die Umfragen allerdings spiegeln dies (noch) nicht wider. In einer aktuellen Forsa-Erhebung sind nur 16 Prozent der Befragten der Meinung, die aktuellen Maßnahmen gingen zu weit – 50 Prozent der Menschen sind hingegen zufrieden, 31 Prozent fordern gar eine noch härtere Vorgehensweise. „Das Grundvertrauen ist nach wie vor da“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. Was verstärkt beklagt werde, sei, dass es innerhalb Deutschlands keine einheitlichen Regeln gebe. „Es wird wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass sich die Politik kümmert – dass man nicht sofort Lösungen findet, verstehen die Leute.“Als Drohung würden die Äußerungen der Politik nicht empfunden, eher als notwendiger Hinweis. Nach wie vor seien die Zustimmungswerte gerade für Kanzlerin Merkel, aber auch für Ministerpräsident Söder groß. Die Stimmung jedenfalls kippe nicht, Kritik komme nur von Einzelnen.
Einer davon ist der Präsident der schwäbischen Industrie- und Handelskammer, Andreas Kopton. „Selbstverantwortung ist offenbar nicht mehr entscheidend, da Herr Söder alles für uns entscheidet“, sagt er bei einer Präsentation der aktuellen IHK-Konjunkturumfrage. Die Angst vor einem neuen Lockdown ist spürbar. „Mich erstaunt die Unterwerfungslust der Massen, dass wir uns offenbar danach sehnen, dass jemand uns sagt, was wir machen sollen.“Die täglichen Meldungen über geplante Maßnahmen würden nur für Unsicherheit sorgen. Sein Appell: „Hört auf, über einen zweiten Lockdown zu sprechen. Warum sollten Unternehmer sonst investieren?“
Konstanz Sie tragen Reichskriegsflaggen und Peace-Zeichen, rufen antisemitische Parolen und schwenken israelische Fahnen, gehören der Reichsbürgerbewegung an und tragen Batik-T-Shirt. Was sie eint, ist die Kritik an den Corona-Maßnahmen der Politik: Die QuerdenkerBewegung ist eines der am schwierigsten fassbaren Phänomene, das die Corona-Pandemie hervorgebracht hat. Tausende Menschen konnte sie mit ihren Demonstrationen in Berlin, Stuttgart und am Bodensee mobilisieren. Als kritische Köpfe, die die Herrschenden hinterfragen, sehen sie sich selbst. „Covidioten“werden die Demonstranten von ihren Gegnern genannt – unter anderem SPD-Chefin Saskia Esken verbreitete auf Twitter die vermeintlich originelle, aber mindestens genauso dumpfe Wortschöpfung. „Dabei wissen wir bis jetzt gar nicht, wer das ist, der auf die Straße geht“, sagt Sebastian Koos.
Koos ist Juniorprofessor an der Universität Konstanz. Gemeinsam mit mehreren Kollegen untersucht er in einem interdisziplinären Team aus Soziologen, Historikern, Medienwissenschaftlern und Ethnologen, was die sogenannten „Querdenker“antreibt. Obwohl die Studie erst seit zwei Wochen läuft, wagt er schon jetzt eine wichtige Hypothese: „Die Zusammensetzung der Demonstrationen ist gemischter, als es die Öffentlichkeit bislang glaubt“, sagt Koos. „Es sind relativ viele ganz normale Menschen dabei.“Was sie eint, sei, dass sie tatsächlich „quer“zum etablierten politischen Gemeinwesen stehen. Sie würden sich nicht in die klassischen Muster von „rechts“oder „links“einfügen.
Mit den Demonstrationen, aber auch mit Online-Foren hätten sie sich einen eigenen Raum geschaffen, der sie in ihrer Haltung bestätige. „Man bestärkt sich gegenseitig“, sagt der Soziologe Koos. In diesen Zirkeln sei es auch relativ leicht, einen gewissen Experten-Status zu bekommen – wer die vermeintlich richtige Perspektive einnehme, tauge als Kronzeuge für die Haltung der „Querdenker“. Ein wissenschaftliches Rüstzeug oder aktive Forschung brauche es dafür nicht Dass Wissenschaft von der Auseinandersetzung und der Kontroverse und unterschiedlichen Standpunkten lebt, damit könnten die wenigsten umgehen. „Man verschafft sich eine hausgemachte Expertise“,
erklärt Sven Reichardt, der als Historiker an der Untersuchung mitwirkt.
Dass sich Protestbewegungen in Zeiten des Umbruchs und der Krise bilden, ist dabei keineswegs ungewöhnlich. Wer sich von der Politik und den Institutionen nicht „erhört“fühlt, sucht sich andere Wege und Kanäle. In der frühen Neuzeit wurden Flugblätter verteilt, die Studentenproteste in den 60er- und 70er Jahren gaben „graue Literatur“, also unveröffentlichte Schriften, in ihren Gruppen weiter. „Aber all das hatte nicht diese breite Wirkung, die heute das Internet ermöglicht“, sagt Reichardt. Auch die Rebellion gegen das sogenannte „Establishment“sei Kern vieler Demonstrationen. Früher seien es vor allem linke Gruppen gewesen, die auf die Straße gegangen sind. Inzwischen hat auch Die Rechte die Wucht der Massendemonstrationen für sich entdeckt. Schon „Pegida“gelang es, Anhänger zu mobilisieren. Auch bei den Anti-CoronaProtesten schließen sich rechte Gruppen an und übernehmen das Repertoire und die Rhetorik der
Linken. Und in noch einem Punkt unterscheiden sich die „Querdenker“ganz stark von anderen Bewegungen: Das Misstrauen in bestimmte Wissenschaftler wie Christian Drosten von der Charité und Lothar Wieler vom RKI ist groß. Noch größer sind die Vorbehalte nur gegenüber der Regierung und den Medien.
Das ist etwa bei „Fridays for Future“anders: Deren Anhänger stützen sich stark auf wissenschaftliche Erkenntnisse, nutzen die klassischen Medien, um die eigene Botschaft zu verbreiten, treffen sich mit Politikern und sind innerhalb kurzer Zeit zu einer beinahe schon professionellen Organisation angewachsen. Doch um diesen Schritt zu gehen, braucht es einen großen geunbedingt. meinsamen Nenner – der den Querdenkern fehlt. Während die einen nur die gewaltigen Schäden für die Wirtschaft kritisieren oder die Maskenpflicht abschaffen wollen, fordern die anderen nicht weniger als ein neues wirtschaftspolitisches System für die Republik. „Ein wichtiger Unterschied ist auch der gesellschaftliche Rückhalt: Fridays for Future erfährt extrem große Unterstützung, mehr als die Hälfte der Bevölkerung steht diesen Protesten zumindest aufgeschlossen gegenüber“, sagt der Konstanzer Wissenschaftler. Die Querdenker-Demonstrationen hingegen ernten deutliche Kritik, eine große Mehrheit der Deutschen steht hinter den Maßnahmen, mit denen die Politik die Pandemie eindämmen will.
Trotzdem – oder gerade deswegen – sei es wichtig, die Zusammensetzung der Corona-Proteste zu untersuchen. Die Demonstrationen würden eine Spaltung innerhalb der Gesellschaft sichtbar machen – selbst wenn die Menschen, die zum Protest auf die Straße gehen, nur eine kleine Minderheit sind. „Wenn man politisch reagieren will, muss man Vorgänge erst einmal verstehen“, sagt Sven Reichardt. „Die Menschen als Covidioten abzutun, könne gefährlich werden. Dialogfähigkeit gehört zur Politik dazu.“Auch vor dem Hintergrund, dass mit steigenden Zahlen wieder striktere Maßnahmen verhängt werden dürften. Und mehr Menschen in finanzielle wie psychische Schwierigkeiten geraten könnten, mit denen sie nur schwer zurechtkommen. Gerade in Zeiten der wachsenden Verunsicherung ist die Politik darauf angewiesen, dass ihre Regeln auch Rückhalt finden und eingehalten werden. Masken-Müdigkeit kann sie sich nicht leisten.
Was also würde der Soziologe Sebastian Koos der Regierung raten? „Drohungen sind nicht der richtige Weg“, sagt er. „Die Kommunikation ist in diesen Zeiten ganz besonders wichtig, dazu gehört auch, anzuerkennen, dass es nicht für alle Menschen leicht ist, die Maßnahmen mitzutragen.“Pauschale Urteile würden die Gruppe nur in ihrer Haltung und in ihrem Zusammenhalt stärken. „Ins Gespräch mit jemanden zu kommen ist selten der falsche Weg“, sagt Koos.
Demos waren lange ein Instrument der Linken