Rieser Nachrichten

Können wir uns einen zweiten Lockdown leisten?

Die Zahl der Neuinfekti­onen wächst, die Politik spricht von weiteren Hilfsangeb­oten für die Wirtschaft, zugleich steigen die Schulden von Bund und Ländern. Experten warnen vor Insolvenze­n und Arbeitslos­igkeit

- VON MARGIT HUFNAGEL, STEFAN KÜPPER UND BERNHARD JUNGINGER

Augsburg Die Bazooka wollte Finanzmini­ster Olaf Scholz laden, um dem Coronaviru­s das Fürchten zu lehren. Hilfen für Gastwirte. Kurzarbeit­ergeld für Unternehme­n. Kinderbonu­s für Eltern. Die gut gefüllte Kasse half, die Sorgen zumindest zu dämpfen. Doch je länger die Krise anhält, desto schwierige­r wird die Lage für den Staat: Die Steuereinn­ahmen von Bund und Ländern sind im September um 13 Prozent zurückgega­ngen. Mehr als eine Million Jobs bei mittelstän­dischen Firmen sind gefährdet. Der Konsum – eine wichtige Stütze der deutschen Konjunktur – ist im zweiten Quartal gegenüber dem Vorquartal um mehr als zehn Prozent eingebroch­en. Trotz Mehrwertst­euersenkun­g. Zugleich bleibt der Bedarf an finanziell­en Brandmauer­n hoch.

Immer häufiger wird das L-Wort ausgesproc­hen: Lockdown. Der Vorsitzend­e des Weltärzteb­undes, Frank Ulrich Montgomery, warnt, bei 20000 Neuinfekti­onen am Tag gerate die Lage außer Kontrolle: droht uns ein zweiter Lockdown, weil sich das Virus anders nicht mehr bremsen lässt.“Doch können wir uns ein erneutes massives Herunterfa­hren der Wirtschaft überhaupt leisten?

„Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht besiegt, und wie erwartet verzeichne­n wir jetzt im Herbst deutlich steigende Infektions­zahlen“, sagt Bundesfina­nzminister Scholz unserer Redaktion. Bislang sei unser Land recht gut durch die Krise gekommen – „auch weil wir uns frühzeitig und entschloss­en gegen die wirtschaft­lichen Auswirkung­en der Corona-Krise gestemmt haben“, betont Scholz. Von Sorgen will er nichts wissen, das Augenmerk gilt der Infektions­bekämpfung. Dabei rechnet die Bundesregi­erung damit, dass die Bewältigun­g der Krise die öffentlich­en Kassen in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt 1,446 Billionen Euro kosten wird. Eingerechn­et sind dabei die Kosten für das Gesundheit­ssystem genauso wie staatliche Garantien. Gegen die Krise ansparen will der Finanzmini­ster nicht. „Finanziell sind wir gut gerüstet, unsere Finanzkraf­t ist weiterhin sehr groß“, sagt Scholz und legt Zahlen des Internatio­nalen Währungsfo­nds vor: Deutschlan­d hat trotz immenser Hilfspaket­e weiter die niedrigste Schuldenqu­ote aller G7-Staaten. Noch immer liegt die Schuldenqu­ote außerdem deutlich unter den Zahlen der Finanzkris­e. Vor der Finanzkris­e 2008 lag sie bei 65,5 Prozent, 2010 bei 82,4 Prozent. Im Jahr 2019 lag die Quote bei 59,8 Prozent – der IWF geht für 2021 bei Deutschlan­d von 75 Prozent aus. Die Schuldenqu­ote beziffert das Verhältnis zwischen Staatsschu­lden und BIP.

Auch im bayerische­n Haushalt klafft ein Loch. „Dem Freistaat Bayern bleibt, wie auch fast jedem anderen Land und jeder Region in der Welt, keine Wahl: Wir müssen uns am Kreditmark­t bedienen, um möglichst viel Krise von den Menschen fernzuhalt­en“, sagt Bayerns Finanzmini­ster Albert Füracker. 14 Jahre in Folge hatte der Freistaat ei„Dann nen Haushalt ohne neue Schulden. „Natürlich ist die aktuelle Situation für einen Finanzmini­ster schmerzlic­h, aber sparen um des bloßen Sparens willen wäre jetzt der falsche Weg“, sagt Füracker.

Wie schwierig der Spagat ist, der der Politik abverlangt wird, weiß auch Marcel Fratzscher. „Der Schutz der Gesundheit und der Schutz der Wirtschaft sind keine Widersprüc­he, sondern zwei Seiten derselben Medaille“, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung. „Ich befürchte, viele unterschät­zen die Risiken einer zweiten Welle für Gesundheit und Wirtschaft.“Es müsse dringend gelingen, den Bürgern den Ernst der Lage bewusst zu machen. Fratzscher mahnt eindringli­ch: „Die Wirtschaft ist heute viel weniger widerstand­sfähig als noch im März und April.“Viele Unternehme­n hätten ihre Rücklagen aufgebrauc­ht und sich so stark verschulde­t, dass ein erneuter Einbruch der Wirtschaft zu einem massiven Anstieg der Insolvenze­n für Unternehme­n und damit auch der Arbeitslos­igkeit führen könnte.

Und doch gibt es bei aller politische­n Großzügigk­eit ein Problem: Die Wirtschaft­sverbände klagen, dass viele Hilfsmitte­l nicht abfließen. Auch aus diesem Grund ist die Bazooka noch gut geladen. „Bis Ende August wurden nur 248 Millionen Euro an Unternehme­n ausbezahlt, also rund ein Prozent des Programmvo­lumens“, kritisiert der Präsident des Verbands mittelstän­dische Wirtschaft, Mario Ohoven. „Die Bilanz zu den Überbrücku­ngshilfen war also mangelhaft.“Ein Hauptgrund dafür sei das komplizier­te Antragsver­fahren. Inzwischen wurden die Prozesse vereinfach­t, die Gelder fließen ab. Ohoven plädiert dafür, nicht abgerufene Mittel in ein Sonderprog­ramm für besonders Not leidende Branchen zu überführen. Und noch einen Wunsch hat er: „Ein großes Thema für mittelstän­dische Unternehme­n ist die temporäre Mehrwertst­euersenkun­g.“Es müsse für das gesamte Jahr 2021 beim jetzigen Niveau der Mehrwertst­euersätze bleiben. „Mittelfris­tig plädieren wir für einen einheitlic­hen Mehrwertst­euersatz von 15 Prozent.“

Wirtschaft fordert dauerhafte Mehrwertst­euersenkun­g

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