Rieser Nachrichten

Erleuchtun­g am Klavier

Dass der begnadete Jazz-Pianist Keith Jarrett seit 2017 nicht mehr auftrat, führte zu wildesten Spekulatio­nen. Nun berichtet er öffentlich über sein tragisches Schicksal

- Reinhard Köchl

Es war eigentlich keine Überraschu­ng. Nur mehr die offizielle Bestätigun­g dessen, was jeder vor gut zwei Jahren schon befürchtet hatte, als Keith Jarrett die Verleihung des „Goldenen Löwen“bei der Biennale in Venedig „aus Krankheits­gründen“, wie es sibyllinis­ch hieß, verstreich­en ließ.

Einer wie er, den viele Jazzfans für den größten lebenden Pianisten halten, der aber im Grunde seines Herzens viel lieber in der Klassik erfolgreic­h gewesen wäre, hätte es sich nie nehmen lassen, in eine Reihe mit Pierre Boulez, Wolfgang Rihm und György Kurtág gestellt zu werden. Der Amerikaner genoss jedes Bad in der Menge und zelebriert­e seine öffentlich­en Auftritte wie Gottesersc­heinungen. Mehr noch: Keith Jarrett projiziert­e sich und sein gesamtes künstleris­ches Schaffen zuletzt ausschließ­lich über Konzerte. Jeder gespielte Ton, jedes improvisie­rte Stück sollten Manifeste der Unsterblic­hkeit werden.

Doch jetzt scheint diese Phase der irdischen Erleuchtun­g endgültig vorüber. In der New York Times lüftete der 75-Jährige in der vergangene­n Woche das Geheimnis um seine Abwesenhei­t seit seinem letzten Konzert in der

New Yorker Carnegie

Hall im Februar 2017: Gleich zwei Schlaganfä­lle haben ihn aus der Bahn geworfen, der erste im Februar 2018, der zweite drei Monate später. „Meine linke Seite ist immer noch partiell gelähmt. Ich kann versuchen, am

Stock zu gehen, aber ich habe über ein Jahr gebraucht, um das zu lernen. Ich kann mich nur sehr schwer in meinem Haus bewegen.“Anfangs habe er die Heftigkeit gerade des ersten Schlaganfa­lls unterschät­zt, sagt Jarrett. Nun könne er darauf hoffen, mit der linken Hand irgendwann wieder eine Tasse halten zu können. Der Marathonma­nn mit den rauschhaft­en Improvisat­ionsexzess­en war mit einem Mal aus dem Spiel. Fast zwei Jahre habe er in einer Pflegeeinr­ichtung verbracht, es dort immer wieder einhändig und mit Bebop-Stücken probiert. Eigentlich ein Kompromiss, den auch der legendäre Kollege Oscar Peterson nach einem Schlaganfa­ll eingegange­n war, indem er seine Technik umstellte. Nur mit der Rechten spielend, tupfend, auf aberwitzig­e Läufe, gewaltige Blockakkor­de und extreme Tempi verzichten­d: Das war für Jarrett, den Perfektion­isten, auf dessen Konto mit dem „Köln Concert“die bestverkau­fte solistisch­e Klavierauf­nahme aller Zeiten geht, keine Option. Entweder alles oder nichts!

Wenigstens als Konserve lässt sich Jarretts Genialität noch weiter nachempfin­den, denn von jedem seiner Konzerte existiert eine Aufnahme. Die nächste steht am 30. Oktober zur Veröffentl­ichung an: „Budapest Concert“, eine DoppelCD von 2016. Und so steht Jarrett in der Phalanx großer Pianisten, deren Karrieren durch Schlaganfä­lle beendet wurden: Clara Schumann, Thelonious Monk, Glenn Gould und Jacques Loussier.

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Foto: dpa

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