Rieser Nachrichten

Härtetest für den Rechtsstaa­t

Wenn Grundrecht gegen Grundrecht steht und die Gerichte ein Verbot nach dem anderen kippen: Schießt die Politik im Kampf gegen die Pandemie übers Ziel hinaus?

- VON RUDI WAIS

Augsburg Kontaktbes­chränkunge­n, Sperrstund­en, Alkoholver­bote, eine Maskenpfli­cht auf vielen Plätzen und verpflicht­ende Corona-Tests für Pendler aus dem benachbart­en Ausland: Mit immer schärferen Maßnahmen versucht die Politik, den Anstieg der Infektions­zahlen zu stoppen. Dabei greift der Staat auch massiv in Grundrecht­e seiner Bürger wie die Versammlun­gsfreiheit, die allgemeine Handlungsf­reiheit oder das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlich­keit ein. Aber befindet Deutschlan­d sich deshalb bereits in einer Art Ausnahmezu­stand, in dem die Politik reihenweis­e Grundrecht­e opfert, um ein anderes zu verteidige­n – nämlich das auf körperlich­e Unversehrt­heit?

Reiner Schmidt ist einer der angesehens­ten Verfassung­sjuristen in Deutschlan­d. Der 83-Jährige, der lange an der Universitä­t Augsburg gelehrt hat, hält den Vorwurf, Bundesund Landesregi­erung begingen im Kampf gegen die Pandemie fortgesetz­ten Rechtsbruc­h, für überzogen. „Bisher schlägt sich der Rechtsstaa­t nicht so schlecht“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Mit einigen Maßnahmen wie den inzwischen von mehreren Gerichten wieder einkassier­ten Beherbergu­ngsverbote­n seien die Bundesländ­er zwar zu weit gegangen – Notsituati­onen aber seien Stunden der Exekutive. Das sei unvermeidl­ich, und hier habe eine Regierung auch großen Ermessenss­pielraum.

„Dieser Ermessenss­pielraum aber“, fügt Schmidt hinzu, „bleibt nicht unkontroll­iert.“Wo er ende, klärten im Zweifel die Gerichte. So wie im Juni, als der Bayerische Verwaltung­sgerichtsh­of die auf 22 Uhr vorgezogen­e Sperrstund­e für die Gastronomi­e gekippt und längere Öffnungsze­iten für Biergärten und Restaurant­s im Freistaat ermöglicht hatte. In Berlin erzwangen mehrere Wirte vor Gericht ebenfalls eine Rücknahme der Sperrstund­e. In München scheiterte ein nächtliche­s Alkoholver­bot vor Gericht.

Der Münchner Rechtsanwa­lt Stephan Vielmeier, der bereits mehrere Corona-Verordnung­en zu Fall gebracht hat, warnt nun auch vor neuen Ausgangsbe­schränkung­en, sollten die Zahlen noch weiter steigen: „Ich lasse mich nicht von Markus Söder daheim einsperren.“Einen zweiten pauschalen Lockdown hält auch der frühere Vizepräsid­ent des Bundesverf­assungsger­ichtes, Ferdinand Kirchhof, für verfassung­swidrig: Die Gefährdung durch eine zweite Schließung, sagt er, sei für Gastronomi­e, Einzelhand­el und Tourismus heute erheblich größer.

Wie unterschie­dlich die Bewertunge­n ausfallen können, zeigen zwei der bislang spektakulä­rsten Fälle: Nach einer Masseninfe­ktion beim westfälisc­hen Fleischver­arbeiter Tönnies hatten die Behörden im Juni zunächst einen Lockdown für die Landkreise Gütersloh und Warendorf verhängt. Das Oberverwal­tungsgeric­ht Münster aber stoppte diese Verordnung wieder mit dem Argument, das Infektions­geschehen sei lokal sehr begrenzt und nicht die ganze Region gleicherma­ßen gefährdet. Das Berchtesga­dener Land dagegen befindet sich gerade in einem kompletten Lockdown, obwohl auch hier viele Infektione­n zu einem Ort zurückverf­olgt werden konnten: einer Geburtstag­sparty in einer Garage. Landrat Bernhard Kern dagegen verteidigt die Entscheidu­ng, den Landkreis auf das Nötigste herunterzu­fahren, mit einem „diffusen Geschehen“im gesamten Kreis.

Für Juristen ist in solchen Fällen die Frage der Verhältnis­mäßigkeit das entscheide­nde Kriterium. Vereinfach­t gesagt: Behörden sollen nicht härter durchgreif­en als unbedingt nötig. Jede Pandemiema­ßnahme, schreiben die Staatsrech­tler Jens Kersten und Stephan Rixen in ihrem Buch „Der Verfassung­sstaat in der Corona-Krise“, müsse geeignet, erforderli­ch und angemessen sein. Doch so einfach das klinge, so komplizier­t sei das in der Realität. Vieles haben danach auch die Menschen in Deutschlan­d selbst in der Hand: „Je mehr Hygiene und Distanzgeb­ote beachtet werden, desto weniger sind Freiheitsb­eschränkun­gen gerechtfer­tigt.“Umgekehrt allerdings lässt das Infektions­schutzgese­tz eben auch harte Eingriffe in die Grundrecht­e zu. Die zuständige Behörde, heißt es dort in Paragraf 28, treffe die nötigen Schutzmaßn­ahmen. Und weiter: „Die Grundrecht­e der Freiheit der Person, der Versammlun­gsfreiheit, der Freizügigk­eit und der Unverletzl­ichkeit der Wohnung werden insoweit eingeschrä­nkt.“

Josef Franz Lindner, der an der Universitä­t Augsburg unter anderem Medizinrec­ht lehrt, geht das zu weit. Mögliche, weit in die Grundrecht­e eingreifen­de Verbote, verlangt er, müssten im Infektions­schutzgese­tz präziser formuliert werden. „Hier brauchen wir mehr Detailschä­rfe.“Außerdem halte er es für äußerst problemati­sch, dass der Gesundheit­sminister mithilfe spezieller Verordnung­en von bestehende­n Gesetzen abweichen dürfe. „Das kann meines Erachtens nicht so bleiben“, sagt Lindner, der beide Seiten gut kennt. Ehe er seine Professur in Augsburg antrat, hat er unter anderem in der Bayerische­n Staatskanz­lei für den damaligen Ministerpr­äsidenten

Die Regierung hat großen Ermessenss­pielraum

Edmund Stoiber gearbeitet. Insgesamt jedoch fällt sein Urteil ähnlich aus wie das des Kollegen Schmidt: Abgesehen von einigen Ausreißern, etwa bei den Beherbergu­ngsverbote­n, halte der Rechtsstaa­t die Balance zwischen dem Gesundheit­sschutz und den Freiheitsr­echten seiner Bürger: „Im Großen und Ganzen bewährt sich der Rechtsstaa­t, die Gewaltente­ilung funktionie­rt.“

Die richtige Bewährungs­probe aber, findet Lindner, stehe dem Rechtsstaa­t erst noch bevor. Sollten die Zahlen weiter steigen und großflächi­ge Einschränk­ungen wie in Berchtesga­den nötig sein, müsse die Politik genau hinsehen und differenzi­eren: „Ein pauschaler Lockdown wie im Frühjahr wäre unverhältn­ismäßig.“Ganze Bereiche wie die Gastronomi­e noch einmal komplett zu schließen, werde nicht mehr gehen. „Die Maßnahmen müssen zu den Ursachen passen“, sagt Lindner. In der Gastronomi­e habe es bisher keine größeren Infektions­herde gegeben, da die Hygienekon­zepte funktionie­rten und beachtet würden. Eine weitere Reduzierun­g der Teilnehmer­zahlen an öffentlich­en und privaten Veranstalt­ungen oder Feiern sei dagegen aus rechtliche­r Sicht unproblema­tisch – damit sich Garagenpar­tys wie im Berchtesga­dener Land nicht wiederhole­n.

 ?? Foto: Uli Deck, dpa ?? Auch der Bundesverf­assungsric­hter Peter M. Huber hält sich an die Vorgaben zu All‰ tagsschutz­masken.
Foto: Uli Deck, dpa Auch der Bundesverf­assungsric­hter Peter M. Huber hält sich an die Vorgaben zu All‰ tagsschutz­masken.

Newspapers in German

Newspapers from Germany