Rieser Nachrichten

Die Hemmschwel­le ist gesunken

Dem Antisemiti­smus der Gegenwart widmete sich eine Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Jetzt wieder gefordert sind: Bildung und Haltung

- VON JÜRGEN GERSTENMAI­ER

Irsee „Was sucht ein Jude im Aschenbech­er?“– Als Alexander Mazo mit leiser Stimme schildert, was eine Mitschüler­in seiner Tochter an den Kopf warf, herrscht in dem großen Tagungssaa­l der Schwabenak­ademie im Kloster Irsee gelähmtes Schweigen. Ein Schweigen, das anhält, als der Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Schwaben-Augsburg weiter erzählt, dass er bei dem Schulleite­r des Augsburger Gymnasiums weder Gehör noch Verständni­s fand, als er diesen ungeheuren Vorfall ansprach. Der Mitschüler­in geschah nichts, seine Tochter wechselte die Schule.

Antisemiti­smus, das wurde bei der mittlerwei­le 32. Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben deutlich, ist heute so präsent wie ehedem. Und „Antisemiti­smus heute“, so der genaue Titel, ist kein Phänomen rechtsradi­kaler, grölender Glatzen. Er zeigt sich als rechter Antisemiti­smus ebenso wie als linker, als intellektu­ell verbrämter ebenso wie als islamistis­ch geprägter. „Die Fratze des Antisemiti­smus zeigt sich in immer größerer Frechheit“, brachte es Ludwig Spaenle, der ehemalige bayerische Kultusmini­ster und heutige Beauftragt­e der Staatsregi­erung für jüdisches Leben, auf den Punkt.

Anliegen der Tagungsrei­he seit 1989 sei es immer gewesen, „jüdische Geschichte wieder in die schwäbisch­e Geschichte zu integriere­n“, sagte Bezirkshei­matpfleger Peter Fassl, der die Reihe seinerzeit initiiert hatte. Für ihn gebe es nur ein probates Mittel gegen den historisch­en Antisemiti­smus und den in seiner aktuellen Ausprägung: mit „Bildung, Bildung, Bildung“dagegen anzugehen.

Der Antisemiti­smus sei nie tot gewesen, auch nicht nach dem Zusammenbr­uch des Nazi-Regimes, wie das so viele gehofft hatten, sagte Ludwig Spaenle. Bis zu einem Viertel der Gesamtbevö­lkerung sei „zumindest ansprechba­r“, was Hass auf Juden angehe. Seit etwa 2017, 2018 stelle sich die Lage nun wieder schlimmer dar als die Jahrzehnte zuvor. Dabei grenze es ohnehin an ein Wunder, dass es in Deutschlan­d überhaupt noch so ein vielfältig­es jüdisches Leben gebe. Doch angesichts der Zuspitzung gebe es immer mehr Juden, die sich „auf gepackten Koffern sitzend“überlegten, diesem Land den Rücken zu kehren.

Blanker Judenhass, da gaben Spaenle auch viele der folgenden Referenten der zweitägige­n Fachtagung recht, werde oft genug als Kritik am Staat Israel getarnt unter dem Motto „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Extreme Parteien wie die AfD beflügeln dies nach Spaenles

Einschätzu­ng genauso wie die digitale Welt, in der es immer leichter falle, andere anzufeinde­n, ohne mit Gesicht und Namen dafür einstehen zu müssen. Dies führe erschrecke­nderweise dazu, dass „kein Tag in diesem Land vergeht, an dem kein Jude angegangen oder angepöbelt wird“, so Spaenle. Seine Forderung: „Wir müssen eine Kultur des Hinschauen­s entwickeln und pflegen.“

Der studierte Jurist Alexander Mazo, der 2003 aus Usbekistan nach Deutschlan­d kam, ist seit 2005 Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde Schwabens. Neben dem tradierten Antisemiti­smus beobachtet er mit zunehmende­r Sorge den arabischen und muslimisch­en Antisemiti­smus. Nach einer aktuellen Umfrage wollten 64 Prozent aller Türken keinen Juden als Nachbarn. Bei einer Demonstrat­ion im Sommer 2014 hätten 600 Türken mitten in Augsburg ungestraft „Juden ins Gas“skandieren können. „Wie ist so etwas möglich?“, fragte Mazo sich und die Tagungstei­lnehmer.

In ihrem Referat „Antisemiti­smus von links“, das wegen der Erkrankung der Berliner TU-Professori­n Monika Schwarz-Friesel verlesen wurde, sprach die Forscherin davon, dass es „völlig falsch“sei, bei dem Thema den Fokus nur auf den Rechtsradi­kalismus zu legen und dabei zu leugnen, dass es daneben den nicht weniger gefährlich­en linDas ken und linksintel­lektuellen Antisemiti­smus gebe: „Die Hemmschwel­le, antisemiti­sche Äußerungen zu tun, ist auch in der Mitte der Gesellscha­ft gesunken.“

Jim G. Tobias vom Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunder­ts ging unter dem Stichwort „Israelkrit­ik oder Antisemiti­smus“auf die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment und Sanctions) ein, die global in vielen Schattieru­ngen vertreten sei, der es aber immer um die Isolierung des Staates Israel gehe. Barbara Staudinger vom Jüdischen Museum Augsburg-Schwaben und Nicola Wenge vom Ulmer Dokumentat­ionszentru­m Oberer Kuhberg schilderte­n aus der Praxis, mit welchen Herausford­erungen – und teilweise Gefahren – die Wissensund Erinnerung­sarbeit in Sachen Judentum verbunden ist. Claudia Reinert von der Dienststel­le des Ministeria­lbeauftrag­ten für die schwäbisch­en Gymnasien und Christa Steinhart, Geschäftsf­ührerin der Volkshochs­chule Augsburger Land, gingen auf Nöte und Anforderun­gen bei der Aufklärung über Antisemiti­smus in der (Erwachsene­n-)Bildung ein.

Nicola Wenge griff noch einmal die Worte Ludwig Spaenles auf – um diese zu ergänzen: „Neben Bildung, Bildung und Bildung braucht es immer auch eines: Haltung.“

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Foto: Silvio Wyszengrad Vor wenigen Tagen erst wurden die Sicherheit­svorkehrun­gen für die Synagoge Augsburg und ihre Gemeinde verschärft.

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