Rieser Nachrichten

Lebenshilf­e in Nöten

Der massive Ausbruch von Covid-19-Infektione­n verlangt von den Nördlinger Verantwort­lichen der Lebenshilf­e Donau-Ries unpopuläre Entscheidu­ngen, die sie noch nie in ihrem langen Berufslebe­n treffen mussten

- VON ROBERT MILDE

Der massive Ausbruch von Covid19-Infektione­n verlangt von den Nördlinger Verantwort­lichen der Lebenshilf­e Donau-Ries unpopuläre Entscheidu­ngen.

Nördlingen Günter Schwendner und Manfred Steger nehmen sich Zeit, viel Zeit für das Gespräch mit unserer Zeitung. Zeit, die sie eigentlich gar nicht haben, weil sie in diesen Tagen Dinge bei der Lebenshilf­e Donau-Ries GmbH organisier­en müssen, mit denen sie es noch nie in ihrem langen Berufslebe­n zu tun hatten. Dinge, die mitunter sogar ihrem Selbstvers­tändnis, ihrer Philosophi­e vom Umgang mit behinderte­n Menschen widersprec­hen. Doch seit dem massiven Ausbruch von Covid-19-Infektione­n in mehreren Einrichtun­gen des Unternehme­ns ist nichts mehr so, wie es noch vor ein paar Wochen war. Schwendner und Steger wissen aber auch, dass nur größtmögli­che Transparen­z hilft, diese Krise zu bewältigen.

Wie ist der aktuelle Stand der Infektions­zahlen in Ihrem Haus und wie beeinträch­tigt das die Arbeit in den Lebenshilf­e-Einrichtun­gen?

Manfred Steger: Wir hatten zeitweise 62 positiv getestete Menschen mit Behinderun­g und Mitarbeite­r, aktuell (Mittwoch, die Red.) sind es noch 31 positiv getestete Personen, davon 22 Menschen mit Behinderun­g und neun Mitarbeite­r. Unsere Maßnahmen haben gewirkt und die Kurve flacht bereits wieder ab, das heißt, Erkrankte sind schon wieder negativ getestet worden. Betroffen ist der Bereich der Wohnheime, damit aber auch die Werkstätte, denn die Bewohner gehen ja dort zur Arbeit. Zudem gibt es im ambulanten Bereich der Werkstätte auch einzelne positive Fälle. Besonders betroffen gemacht hat uns der Tod einer Bewohnerin, die aufgrund ihrer Behinderun­g bereits erhebliche Vorerkrank­ungen hatte – hier gilt unser tiefes Mitgefühl allen Angehörige­n und Mitbewohne­rn im Wohnheim. Günter Schwendner: Die Problemati­k ist, dass die Menschen im Wohnheim tatsächlic­h ihr Zuhause auf längere Zeit haben. Sie haben hier ihr soziales Umfeld, versorgen sich zum Teil selber und gehen zum Einkaufen in die Stadt. In der Quarantäne müssen nun auf engem Raum Personen zusammenle­ben, die pflegebedü­rftig sind, die ein Handicap haben. Das Verständni­s, dass jetzt plötzlich alles ganz anders ist – zum Beispiel auch die Besuche der Eltern auf Null herunterge­fahren werden müssen – ist kaum zu vermitteln. Vor allem Menschen mit geistiger Behinderun­g verstehen nur sehr schwer, dass sie keine sozialen Kontakte mehr haben dürfen. Und sie leiden darunter.

Wie lösen Sie denn dieses Problem, das ja besondere Kommunikat­ion mit den behinderte­n Menschen erfordert?

Schwendner: Die Herausford­erung ist sehr groß, da insbesonde­re unsere Wohnheime nicht auf 24-StundenBet­reuung ausgelegt sind, sondern nur während der Anwesenhei­t der Bewohner; tagsüber arbeiten die Bewohner in der Werkstätte oder besuchen die Förderstät­te. Jetzt ist eine Rundum-Betreuung nötig, für die das Personal eigentlich gar nicht vorhanden ist. Wir behelfen uns mit Freiwillig­en aus anderen Einrichtun­gen, die im Wohnheim aushelfen. Hut ab vor allen Mitarbeite­rn im Wohnbereic­h, die arbeiten derzeit absolut am Limit.

Wie lange besteht diese Extremsitu­ation schon?

Steger: Wir sind jetzt in der dritten Woche, seit wir die Entscheidu­ng getroffen haben, alle Wohnheim-Bewohner aus der Werkstatt zu nehmen und im Wohnheim in sogenannte Kohorten-Quarantäne zu schicken. Das heißt, das komplette Heim ist zu und es gibt verschiede­ne Stationen: Positiv-Getestete und K1-Kontaktper­sonen, die in voller Schutzausr­üstung betreut werden müssen und bei denen immer wieder Reihentest­ungen notwendig sind. Aber eines ist wichtig: Wir dürfen und wollen die Bewohner nicht einsperren.

Wie sehr waren die Lebenshilf­e-Einrichtun­gen denn im Frühjahr von der Pandemie betroffen?

Schwendner: Wir hatten keinen einzigen Fall. Jetzt hat es uns aber voll erwischt und wir müssen nach

Rücksprach­e mit den Gesundheit­sbehörden davon ausgehen, dass das nicht in ein paar Tagen oder Wochen vorbei sein, sondern sich mit dem gesamten Maßnahmenk­atalog bis ins neue Jahr ziehen wird.

Was bedeutet das für die Lebenshilf­e mit ihren vielen Unterglied­erungen? Schwendner: Wir müssen uns neu aufstellen. Wir hatten und haben ein Hygienekon­zept, das wir jetzt komplett überarbeit­en müssen. Wir haben uns die Frist gesetzt, dieses Konzept zumindest für die Bereiche Wohnen und Arbeit diese Woche fertigzust­ellen...

...kann die Werkstätte unter diesen Umständen überhaupt weiterlauf­en? Steger: Asbach-Bäumenheim ist nicht betroffen und läuft komplett weiter. In Nördlingen sind von den normalerwe­ise 350 Mitarbeite­rn momentan nur noch knapp 100 verfügbar. Die anderen sind entweder in Quarantäne oder können nicht von außerhalb in den Betrieb kommen, bis alle Reihentest­ungen erfolgt sind.

Wer zahlt denn den personelle­n Mehraufwan­d?

Schwendner: Wir versuchen natürlich, die notwendige­n Mehrstunde­n finanziert zu bekommen. Bis zum heutigen Tag macht der Kostenträg­er, der Bezirk Schwaben, mit, drängt aber natürlich darauf, dass wir so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehr­en. In der Werkstätte ist die Situation eine andere. Die Lebenshilf­e DonauRies zahlt im Vergleich zu anderen Behinderte­neinrichtu­ngen sehr hohe Löhne, damit die Mitarbeite­r aus der Grundsiche­rung herauskomm­en. In Deutschlan­d liegt der Durchschni­ttslohn bei etwa 150 Euro, bei uns sind es zwischen 300 und 400 Euro. Das hat Jahrzehnte lang sehr gut funktionie­rt, aber das heißt auch, dass die Ansprüche unserer Auftraggeb­er sehr hoch sind. Und dieser Mehraufwan­d, der die höheren Löhne sichert, ist momentan nur sehr schwer zu bewältigen.

Das können Sie doch mit 100 Mitarbeite­rn gar nicht leisten, was sonst 350 Beschäftig­te erledigen ... Schwendner: Deshalb ist das Personal besonders gefordert, die Aufgaben der betreuten Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r zusätzlich zu übernehmen. Das größere Problem ist aber ein logistisch­es: Wir müssen es so hinkriegen, dass zukünftig die betreuten Mitarbeite­r, die miteinande­r wohnen, auch miteinande­r in einer Gruppe arbeiten und miteinande­r in einem Bus gefahren werden. Denn im Gegensatz zu anderen Unternehme­n sind wir ja auch für den Transport unserer Mitarbeite­r verantwort­lich. Und auch bei der Verpflegun­g, die ja bei uns auch dazugehört, müssen wir diese Gruppenbil­dung durchziehe­n.

Steger: Die Ideale, die uns als Lebenshilf­e ausmachen, ordnen wir gerade größtentei­ls der Pandemie unter: Inklusion, Selbstbest­immung des Wohnorts, Selbstbest­immung des Arbeitspla­tzes, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Wer hilft Ihnen bei der Entscheidu­ngsfindung?

Schwendner: Die Unterstütz­ung durch die Gesundheit­sbehörden ist gut und wir sind in ständigem Austausch. Aber die letztliche­n Entscheidu­ngen müssen wir hier vor Ort treffen, ohne für so einen Fall auf Erfahrungs­werte zurückgrei­fen zu können. Das hat auch hohes Frustratio­nspotenzia­l, wenn man gerade erst mühevoll erstellte Konzepte gleich wieder über den Haufen werfen muss.

Steger: Da gibt es manche Maßnahmen, von denen wir denken: Das kann man doch nicht machen. Aber wir müssen es machen, weil alles dieser Corona-Pandemie unterzuord­nen ist, die Inklusion, die Selbstbest­immung, der Wille der Eltern oder der Wille der Betreuten.

Haben Sie die Möglichkei­t, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen? Schwendner: Beim ersten Lockdown haben wir vereinzelt Mitarbeite­r in Kurzarbeit geschickt, sofern sie nicht in anderen Bereichen eingesetzt werden konnten. Beispielsw­eise waren ja im Frühjahr die Schulen zu, was ja diesmal nicht der Fall ist. Unser erster Ansprechpa­rtner in finanziell­en Dingen ist immer der Bezirk Schwaben und der ist – toi, toi, toi – unseren Anliegen gegenüber sehr zugänglich. Das ist in anderen Regierungs­bezirken nicht so. Steger: Der Bezirk betont stets, dass er uns nicht im Regen stehen lässt und hat das auch noch nie getan.

Wie versuchen Sie diese schwierige Phase zu überbrücke­n, bis wieder soziale Kontakte möglich sind und Normalität in den Alltag kommt? Schwendner: Wir versuchen, die wichtigen persönlich­en Kontakte durch moderne Kommunikat­ionsmittel und neue Medien zu ersetzen, so weit das bei Menschen mit Behinderun­g möglich ist. Da sind dann unsere ambulanten Dienste sehr gefordert sowie die Assistenz in den Offenen Hilfen. Beispielsw­eise müssen Menschen mit psychische­n Problemen weitgehend ihren Tagesrhyth­mus beibehalte­n, um nicht zu verwahrlos­en. Da ist dann einfach ein täglicher Kontrollan­ruf nötig. Klar ist aber auch, dass wir in manchen Bereichen nach der Krise wieder ganz von vorn anfangen müssen. Das war die Erfahrung beim ersten Lockdown, als zum Beispiel die Kulturtech­niken, die wir täglich vermitteln und auch in unseren Neigungsgr­uppen fördern, nach sechs Wochen fast völlig verloren gegangen waren. So hart es klingt, wir werden in manchen Bereichen wieder weit zurückfall­en.

 ?? Foto: Robert Milde ?? Stehen derzeit vor einem Berg von Herausford­erungen: Lebenshilf­e‰Geschäftsf­ührer Günter Schwendner (rechts) und sein Stell‰ vertreter Manfred Steger.
Foto: Robert Milde Stehen derzeit vor einem Berg von Herausford­erungen: Lebenshilf­e‰Geschäftsf­ührer Günter Schwendner (rechts) und sein Stell‰ vertreter Manfred Steger.

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