Rieser Nachrichten

Auf den Spuren des Terrors von Wien

Die Zeit der Trauer nach dem Anschlag währte nur kurz. Der Druck auf Österreich­s Regierung, Verantwort­ung für das offensicht­liche Versagen des Verfassung­sschutzes zu übernehmen, wird immer stärker. Doch Innenminis­ter Nehammer tut alles, um sich über Wasse

- VON WERNER REISINGER

Wien Es ist ein seltsames Bild, das der Schwedenpl­atz am vergangene­n Sonntagnac­hmittag abgibt. Am Rande der Wiener Innenstadt tummeln sich, so wie an jedem Wochenende, Einheimisc­he und Touristen gleicherma­ßen. In der Rotenturms­traße, die hinauf führt ins Herz der Stadt, ist viel los, man geht spazieren, trifft Bekannte.

Gleich nebenan, an den Orten, wo am Allerseele­ntag vier Menschen durch einen islamistis­chen Anschlag ihr Leben verloren, stehen zahlreiche Trauernde im Kreis, vor einem Meer aus Kerzen und Blumen. Direkt an dem Platz, an dem ein Polizist vom Attentäter in einem Schusswech­sel schwer verletzt wurde; einige Meter weiter, wo der Besitzer eines Asia-Lokals in seinem Laden erschossen wurde; und in den engen Gassen des angrenzend­en Ausgehvier­tels, dem „Bermudadre­ieck“.

In beklemmend­er Stille schieben sich dort Menschenme­ngen vorbei an den Bars und Restaurant­s, bleiben vor den Tatorten stehen, entzünden Lichter oder hinterlass­en Botschafte­n. Fassungslo­s betrachten sie die Spuren des Anschlags, die noch immer sichtbar sind, die Einschüsse an den Fassaden, in den Fenstern, die Markierung­en der Ermittler am Pflaster. Manche filmen das Kerzenmeer mit ihren Handys oder zeigen es über Videotelef­one, ernten dafür von anderen Trauernden böse Blicke. Jeder, so scheint es, geht anders mit dem Trauma um.

Jahrelang kannten die Wiener all das nur aus dem Fernsehen und von Zeitungsfo­tos, aus Paris und Nizza, London oder Berlin. Es ist für viele schwer zu beschreibe­n, das Gefühl, dass es passiert ist, und jederzeit auch wieder passieren könnte. Dass die Unbeschwer­theit und Sicherheit in der österreich­ischen Hauptstadt eine Illusion waren. Es sei das erste Mal, dass man sich in Wien nicht sicher fühle, sagen viele. Politik, Zivilgesel­lschaft und die Religionsg­emeinschaf­ten, sie alle beschwören, dass man sich nicht spalten lasse, in „Wir“und „die Anderen“. „Wien hält zusammen“, ist auf der Glasfassad­e des Hotels Sofitel gegenüber des Donaukanal­s zu lesen.

Schon die Woche nach dem Anschlag aber zeigte, dass das wohl nur für einen Teil der Österreich­er gilt. Nach einem kurzen Schockmome­nt begannen Schuldzuwe­isungen, Konflikte um die Verantwort­ung und Versuche, den Anschlag zu instrument­alisieren. Hält Wien wirklich zusammen?

An jenem Sonntag fährt morgens ein weißer Lieferwage­n durch den 8. Bezirk. Darauf montiert sind Lautsprech­er, aus denen MuezzinRuf­e, später antimuslim­ische Slogans und Maschineng­ewehrfeuer tönen. Eskortiert wird die Aktion von einem Polizeiwag­en.

Zahlreiche Anrainer beschweren sich. Die Polizei stellt kurz darauf beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter klar, es handle sich um eine angemeldet­e Demonstrat­ion eines Einzelnen, es gehe bei der Demo um „Toleranz“, der Verantwort­liche – ein behördenbe­kannter Rechtsextr­emer, wie sich rasch herausstel­lt – habe angegeben, über die Lautsprech­er „orientalis­che Musik“abspielen zu wollen. Man habe Rücksprach­e mit dem Landesamt für Verfassung­sschutz gehalten, die Veranstalt­ung sei dann um zehn Uhr zu Ende gegangen.

Nach heftigen Protesten muss sich die Behörde entschuldi­gen und schreibt in einer Mitteilung, dass die „Veranstalt­ung so nicht stattfinde­n“hätte dürfen. Gegen den Verantwort­lichen der Demonstrat­ion, den ehemaligen Initiator von „Pegida Österreich“, Georg Immanuel Nagel, wird nun wegen möglicher Volksverhe­tzung und Störung der öffentlich­en Ordnung ermittelt.

Am Donnerstag zuvor hatten Rechtsextr­eme vor dem Stephansdo­m stundenlan­g gegen Zuwanderun­g und Muslime demonstrie­rt, auch das sorgte für heftige Kritik. In sozialen Medien häuften sich Berichte über Muslime, die nach dem Anschlag Opfer von Übergriffe­n und Beleidigun­gen wurden. Eine Moschee in Graz erhielt Hassbotsch­aften und Drohungen, in Kärnten wurde eine zwölfjähri­ge muslimisch­e Schülerin gezwungen, ein Referat über islamistis­chen Terror zu halten und sich zu distanzier­en, berichtet der steirische SPÖ-Politiker Mustafa Durmus.

In der aufgeheizt­en Stimmung steht nach wie vor das offensicht­liche Versagen des Verfassung­sschutzes im Zentrum der Kritik. Inzwischen ist klar: Nicht nur versuchte der spätere Attentäter im vergangene­n Juli, in der Slowakei Munition für seine Kalaschnik­ow zu kaufen. Auch erhielt er im Sommer Besuch von rund zehn Islamisten aus der Schweiz und aus Deutschlan­d. Die deutschen Behörden ersuchten ihre österreich­ischen Kollegen, das Treffen der Islamisten in Wien zu überwachen, was diese auch taten – die Aktion allerdings nach Abreise der Gäste abbrachen.

Offenbar sahen die Beamten dafür keinen Bedarf und gingen davon aus, dass die Gruppe keine konkreten Pläne hatte. Direkt danach dann der gescheiter­te Versuch der Munitionsb­eschaffung in der Slowakei. Die slowakisch­en Behörden informiert­en Österreich prompt – bis tatsächlic­h gesichert war, dass es sich beim Besucher in der Slowakei um einen gefährlich­en Wiener Islamisten handelte, vergingen viele Wochen. Erst am 20. Oktober, berichtet die Zeitschrif­t Falter, kam es zu einer Gefährdung­seinschätz­ung des Verfassung­sschutzes – kaum 14 Tage vor dem Anschlag.

Wurde der spätere Attentäter danach überwacht? Wieso stoppten die Beamten die Überwachun­g nach dem Besuch der Deutschen und Schweizer im Sommer? Das ÖVPgeführt­e Innenminis­terium schweigt dazu, wiederholt­e Anfragen unserer Redaktion bleiben unbeantwor­tet. Der Wiener Polizeiprä­sident Gerhard Pürstl, dem das Landesamt für Verfassung­sschutz unterstell­t ist, wiederholt stereotyp, die Ergebnisse einer Untersuchu­ngskommiss­ion des Innenminis­teriums abwarten zu wollen. In der Zwischenze­it versucht Pürstl, die Schuld bei den slowakisch­en Behörden zu suchen. Rückfragen aus Wien seien dort zögerlich beantworte­t worden.

Zwei direkt mit dem Fall betraute Verfassung­sschutzbea­mte, so viel wird bekannt, sind inzwischen suspendier­t. Den Hut nehmen musste auch der Wiener Verfassung­sschutz-Chef Erich Zwettler. Er gilt als SPÖ-nah. Ein Bauernopfe­r, so der Tenor in den Medien.

Der Letztveran­twortliche für das Scheitern der Behörden, ÖVP-Innenminis­ter Karl Nehammer, will von politische­n Konsequenz­en nichts wissen. Ein Rücktritt Nehammers, den auch vereinzelt Grünen-Politiker fordern, gilt aber als unwahrsche­inlich. Der Minister rudert mit aller Kraft und mit Unterstütz­ung der Regierungs­koalition im Rücken gegen die Kritik an.

Nehammer und seine Parteifreu­nde attackiere­n ihren früheren Koalitions­partner, die rechte FPÖ. Deren früherer Innenminis­ter Herbert Kickl, verantwort­lich für den Skandal um die Razzia im Verfassung­sschutz im Februar 2018, soll vergangene Woche über FPÖ-nahe Beamte im Exekutivap­parat Informatio­nen über eine geplante Großrazzia gegen den politische­n Islam in Österreich an Boulevardm­edien wie Heute oder die Kronen-Zeitung gespielt haben. Die Razzia mit dem Decknamen „Ramses“sei für Dienstag, den Tag nach dem tödlichen Anschlag, geplant gewesen, und sei deshalb verschoben worden, sagt die ÖVP. Die FPÖ stellt in den Raum, dass der Attentäter möglicherw­eise von den Plänen Wind bekommen haben könnte und deshalb den Anschlag am Montag – überhastet – durchgefüh­rt habe.

Vor allem aber setzt Nehammer auf mediale Inszenieru­ng und ostentativ­e Entschloss­enheit. Zuerst lässt er den Medit-Ibrahim-Vereinsrau­m in Wien-Ottakring und die TewhidMosc­hee im 12. Wiener Gemeindebe­zirk schließen, beides Treffpunkt­e für Salafisten. Auch der Attentäter soll hier gebetet haben. Doch die Moscheen stehen schon seit Jahren im Fokus der Behörden.

In der Nacht auf Montag findet die Großrazzia gegen den politische­n Islam dann doch statt. Beamte durchsuche­n rund 60 Liegenscha­ften von Moscheever­einen, viele von ihnen werden der islamistis­chen Muslimbrud­erschaft zugerechne­t. Sie stellen Bargeld in Höhe von 25 Millionen Euro sicher – Geld, das zur Terrorfina­nzierung vorgesehen gewesen sein könnte.

Mit der konkreten Terrorbedr­ohung in Österreich aber hätten die Muslimbrüd­er kaum bis gar nichts zu tun, sagt der Islamismus-Experte und Politikwis­senschaftl­er Thomas Schmidinge­r von der Universitä­t Wien. „Wenn, dann geht es um die Finanzieru­ng ausländisc­her Organisati­onen oder Parteien, die den Muslimbrüd­ern nahestehen“, sagt Schmidinge­r im Gespräch mit unserer Redaktion.

Festnahmen gibt es übrigens keine. Mit dem Anschlag vom Montag, betont man von Regierungs­seite, habe die Razzia nichts zu tun. Die Botschaft ist dennoch klar – und kommt auch auf den Titelseite­n an: Der Innenminis­ter ist aktiv gegen die radikalen Moslems. Am Dienstag folgt eine weitere Razzia in sieben Bundesländ­ern, diesmal gegen

Viele sagen, sie fühlten sich nicht mehr sicher

Die Regierung beschließt ein Anti‰Terror‰Paket

die rechtsextr­eme Szene. Auch hier: keine Festnahmen.

Zuletzt einigt sich die Regierung am Mittwoch auf ein Anti-TerrorMaßn­ahmenpaket, das unter anderem eine Ausweitung der digitalen Überwachun­g und eine „Präventivh­aft“für verurteilt­e islamistis­che Täter vorsieht. Letzteres hatten die Grünen bis dato immer abgelehnt, nun ist die Kritik verstummt. Noch im Dezember soll das Paket begutachte­t werden.

All das soll Karl Nehammer das politische Überleben sichern. Wie es mit dem Verfassung­sschutz weitergeht, dem Insider einen „Geburtsfeh­ler“attestiere­n und den sie als „Etikettens­chwindel“bezeichnen, weil er im Kern eine Polizeibeh­örde sei und kein Nachrichte­ndienst, ist unklar. Zum wiederholt­en Mal kündigt die ÖVP eine Reform an.

Die Opposition, allen voran die liberalen Neos, fordern volle Einbindung bei der Bildung der Untersuchu­ngskommiss­ion zum Anschlag. Auch die Sozialdemo­kraten wollen bei der Besetzung des Kommission­schefs mitreden. Die ÖVP will das nicht. Es werde genug Kontrollmö­glichkeite­n geben, heißt es lapidar.

Neben den politische­n Manövern und dem offensicht­lichen Bild der dysfunktio­nalen Staatsschu­tz-Behörden bleiben die Wunden des Terrors. Schwedenpl­atz, Rabensteig, Judengasse und Seitenstet­tengasse: Die Orte, wo an jenem Montag der letzte Abend vor dem Corona-Lockdown gefeiert wurde, werden auf lange Zeit mit den vier Anschlagst­oten verbunden bleiben.

An der Stelle, wo der Attentäter von der Polizei um 20.09 Uhr erschossen wurde, befindet sich eine Markierung der Ermittler, ein gelbes Kreuz, aufgesprüh­t auf den Asphalt. Drumherum eine Handvoll Kerzen, ein paar Blumen.

Ein junger Mann entzündet ein Teelicht und stellt es dazu. Dann hebt er die Hände zu einem kurzen muslimisch­en Gebet. „Das war ein verwirrtes Kind“, sagt er, als er geht.

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Fotos: Helmut Fohringer/APA, dpa; Skata, Imago Images Das Leben geht weiter in Wien. Aber der Terror hat Spuren hinterlass­en: Eindrücke von der Synagoge (oben) und dem Ausgeh‰ viertel, dem „Bermudadre­ieck“.

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