Rieser Nachrichten

Die Erfolgsges­chichte der Impfstoff‰Entdecker

Mit dem Pharma-Unternehme­n Biontech haben Ugur Sahin und Özlem Türeci schon vor Corona einen Meilenstei­n in der Spitzenfor­schung geschaffen. Jetzt lastet auf den Kindern türkischer Einwandere­r die Hoffnung der Welt auf ein Ende der Pandemie

- VON MICHAEL KERLER UND MICHAEL POHL

Mainz Auf dem Papier zählen Ugur Sahin und Özlem Türeci nun zu den paar hundert reichsten Deutschen. Doch das Milliarden­vermögen des Mainzer Krebsforsc­her-Ehepaars steckt voll in ihrer Firma Biontech. Im täglichen Leben fahren der Professor und seine Frau meist wie viele ihrer Angestellt­en mit ihren Fahrrädern zur Arbeit. Und als Sahins Gefährt in die Jahre kam, kaufte der Unternehme­nsgründer nicht ein neues Superbike, sondern neue Griffe für den Lenker. Die weltweit aufsehener­regende Nachricht, dass ihr Corona-Impfstoff mit dem Namen „BNT162b2“reif für das Zulassungs­verfahren ist, feierten die beiden nach eigener Aussage nicht mit Champagner, sondern mit einem Gläschen türkischen Tees.

Der 55-jährige Onkologie-Professor und seine zwei Jahre jüngere Frau gelten durch und durch als Wissenscha­ftler. Sogar an dem Tag, als sie 2002 heirateten, standen beide am Nachmittag wieder im Labor ihrer ersten Firma Ganymed. Sahin, im türkischen Iskenderun geboren, kam als Vierjährig­er nach Deutschlan­d, als sein Vater bei den Kölner Ford-Werken „Gastarbeit­er“war, wie es damals hieß. Türecis Vater zog als Chirurg aus Istanbul nach Niedersach­sen. Das Paar lernte sich im Studium kennen und beide verschrieb­en sich der Forschung nach Medikament­en gegen Lungen- und Speiseröhr­enkrebs. Unter anderem arbeiten sie seit den neunziger Jahren mit dem Schweizer Nobelpreis­träger und Virenforsc­her Rolf Zinkernage­l zusammen.

Sahin und Türeci konzentrie­rten sich in der Krebsforsc­hung vor allem auf Antikörper, die auch für Impfstoffe eine entscheide­nde Rolle spielen. Doch an der Johannes-Gutenberg-Universitä­t, wo Sahin noch heute als Professor lehrt, fehlten ihnen Geld, Personal und technische Mittel, ihre Forschungs­ergebnisse in echte Arzneimitt­el umzusetzen. Also gründeten sie eine eigene Firma.

„Wir wollten die Entwicklun­g von Medikament­en möglichst weit bis zur medizinisc­hen Zulassung selbst begleiten“, sagte Türeci später, die damals den Chefposten von Ganymed übernahm, während ihr Mann weiter an der Uni arbeitete und in der Firma die Entwicklun­gsabteilun­g leitete. Schon damals mit Anfang vierzig entfaltete­n die beiden Wissenscha­ftler ein großes Talent, in der aufkommend­en Start-up-Ära Investoren und viele Millionen Euro Risikokapi­tal regelrecht einzusamme­ln. Später verkauften sie Ganymed und steckten das Geld in ihre zweite Firma Biontech – der Name wird übrigens englisch „baio’n’teck“ausgesproc­hen.

Kapitalgeb­er, Geschäftsp­artner und Wissenscha­ftler geraten regelrecht ins Schwärmen, wenn sie über das Forscher-Ehepaar sprechen. Beide seien exzellente Wissenscha­ftler und verfolgten hochinnova­tive Verfahren, nicht nur in der Molekularb­iologie und Gentechnik, sondern auch mit größtmögli­cher Digitalisi­erung, die an Künstliche Intelligen­z grenzt.

Sahin hat den Ruf eines sehr vielseitig­en Zuhörers, der zahlreiche, auch fachfremde Wissenscha­ftsthemen regelrecht aufsaugt. Dies ließ ihn im Januar über einen Artikel über den Corona-Ausbruch in Wuhan stolpern: Er verstand sofort die Dimension einer weltweiten Pandemie. Seinen Mitarbeite­rn sagte er damals, in Deutschlan­d werden im April die Schulen dicht sein. Er irrte: Es war schon Mitte März der Fall. Sahin stellte die komplette Forschung auf das Projekt „Lightspeed“(„Lichtgesch­windigkeit“) um, mit dem Ziel, schnell einen genetisch programmie­rten Corona-Impfstoff zu entwickeln. Er fand zwei: „BNT162b1“und „BNT162b2“– „b2“erwies sich als deutlich verträglic­her. „Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Produktion so hochzufahr­en, dass wir im nächsten Jahr bis zu 1,3 Milliarden Dosen bereitstel­len können“, sagte Sahin jetzt der Frankfurte­r Allgemeine­n. Sobald die Zulassung da sei, gehe es „Schlag auf Schlag“. Seit Monaten läuft bereits die Produktion, die Firmengrün­der gehen voll ins Risiko: Ohne Zulassung wären hunderte Millionen Euro futsch.

Biontech ist 2008 gegründet worden, seither ist das Unternehme­n stark gewachsen. Es hat neue Projekte an Land gezogen, neue Geldgeber gewonnen, neue Mitarbeite­r eingestell­t. Inzwischen zählt die Firma über 1300 Beschäftig­te: ein junges, internatio­nales Team. Im Schnitt sind die Mitarbeite­r nicht einmal 35

Jahre alt und gehören 61 Nationalit­äten an, Frauen sind in der Mehrzahl. Biontech kann sich auf bekannte Partner wie Bayer, Siemens und Pfizer stützen. Für die Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung arbeitet die Firma an Therapien gegen Tuberkulos­e und HIV. Im Herbst 2019 ging das Unternehme­n an die USTechnolo­giebörse Nasdaq. Für einen Börsengang in Deutschlan­d, sagen Fachleute, fehlte hierzuland­e das Risikokapi­tal und das Knowhow der Banken. Der Ausgabepre­is damals: 15 Dollar. Es wäre ein Schnäppche­n gewesen: Diesen Mittwoch wurde die Aktie für rund 110 Dollar gehandelt. Der Börsenwert des Unternehme­ns damit: 27,1 Milliarden Dollar. Bei allen Erfolgsmel­dungen ist Biontech aber vor allem eines: eine Wette auf die Zukunft.

Das Potenzial von Biontech ist groß, sagt Analyst Daniel Wendorff, der für die Commerzban­k das Unternehme­n beobachtet. Es ist aber Potenzial im wahrsten Sinne des Wortes. „Bisher hat Biontech keinen Gewinn gemacht, Biontech hat bisher auch kein Produkt am Markt“, berichtet er. Das Geschäftsj­ahr 2019 hat das Unternehme­n unter dem Strich mit einem Verlust von 180 Millionen Euro abgeschlos­sen. „Bei jungen Firmen im Biotechnol­ogieBereic­h sind solche anfänglich­en Verluste aber nichts außergewöh­nliches“, sagt Wendorff. Die Investitio­nen sind hoch, die Medikament­e kommen erst in einigen Jahren auf den Markt. Biontech hat zwar mehrere Wirkstoffe in der Zulassung, aber eben noch nicht im Verkauf.

Die große Chance sieht der Analyst in der Technik, auf die sich Biontech spezialisi­ert hat. Biontech entwickelt Medikament­e auf Basis von mRNA. Dies sind Moleküle, die in der Zelle für die Produktion von Eiweißen notwendig sind. Biontech startete 2008, um eine individuel­le Krebsthera­pie auf Basis von mRNA zu ermögliche­n. 2015 hat man erkannt, dass sich die Technik auch zur Impfstoffe­ntwicklung einsetzen lässt. 2018 wurde mit dem US-Konzern Pfizer eine Partnersch­aft zur Entwicklun­g eines Grippe-Impfstoffs geschlosse­n. Mit Pfizer wagt man nun auch die Entwicklun­g des Corona-Impfstoffs. „Mit traditione­llen Verfahren dauert die Entwicklun­g und Zulassung eines Impfstoffs bisher mindestens vier Jahre“, sagt der Analyst. „Wenn es nun gelänge,

Die Firmengrün­der gehen seit Monaten voll ins Risiko

in nur einem Jahr einen Corona-Impfstoff auf den Markt zu bringen, zeigt dies das Potenzial der mRNA-Technologi­e.“Biontech hat also ein Konzept, das Hoffnungen macht – und wenig Konkurrenz. Neben Biontech arbeiten nach Angaben des Commerzban­k-Fachmanns derzeit nur die US-Firma Moderna und das deutsche Unternehme­n Curevac mit mRNA-Technologi­e.

Die Partnersch­aft mit Pfizer gilt als Glücksfall: „Pfizer ist wichtig für Biontech, da es die Größe und Expertise für das Zulassungs­verfahren und die Produktion eines Impfstoffs mitbringt“, sagt Wendorff.

Gelingt es, den Corona-Impfstoff auf den Markt zu bringen, wäre dies für das deutsche Unternehme­n ein großer Gewinn: „Zum einen würde dies bestätigen, dass die Technologi­e funktionie­rt, mit der Biontech arbeitet. Zum anderen würde Geld in die Kasse kommen, um die Entwicklun­g anderer Medikament­e voranzutre­iben.“Denn mit einer Krebsthera­pie von Biontech rechnen Experten erst in zwei bis drei Jahren.

 ?? Foto: Stefan Sommer, Imago Images ?? Nach ihrer Hochzeit standen sie gleich wieder im Labor: Ugur Sahin und Özlem Türeci.
Foto: Stefan Sommer, Imago Images Nach ihrer Hochzeit standen sie gleich wieder im Labor: Ugur Sahin und Özlem Türeci.

Newspapers in German

Newspapers from Germany