ChaosTage in Ankara
Alle großen Medien verschweigen den Rücktritt des Finanzministers, bis der Präsident eine Weisung erteilt. In der Krise kündigt Erdogan eine neue Wirtschaftspolitik an
Ankara Nach dem Sturzflug der türkischen Lira, dem Dahinschmelzen staatlicher Devisenreserven und dem überraschenden Rücktritt seines Schwiegersohnes als Finanzminister hat der Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Wende in der Finanz- und Wirtschaftspolitik angekündigt. Seine Regierung werde sich verstärkt um Vertrauen und Glaubwürdigkeit bemühen, sagte Erdogan am Mittwoch vor der Parlamentsfraktion seiner Partei AKP. Auch strukturelle Reformen, etwa in der Justiz, verrsprach er. Damit will Erdogan seine Anhängerschaft beruhigen, die wegen Albayraks abruptem Abgang und der hilflosen Reaktion der Regierung verunsichert ist. Die Opposition sieht das System Erdogan als gescheitert an.
Erdogan hatte seinen Schwiegersohn Albayrak in hohe Regierungsposten gebracht, um ihn als Nachfolger aufzubauen. Doch als Finanzminister bekam Albayrak die wachsende Wirtschafts- und Währungskrise nicht in den Griff. Er trat am Sonntagabend – offiziell aus Gesundheitsgründen – zurück, nachdem Erdogan den Zentralbankchef gefeuert und ihn durch seinen Berater Naci Agbal ersetzt hatte – einen Mann, mit dem Albayrak nicht zusammenarbeiten wollte. Präsident und Regierung waren von Albayraks Rücktritt so schockiert, dass sie mehr als einen Tag brauchten, um die Demission zu bestätigen und einen neuen Minister zu benennen. Staatliche und regierungsnahe Medien erhielten einen Maulkorb.
Der neue Ressortchef Lütfi Elvan, bisher Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Parlament, soll
dem neuen Zentralbankchef Agbal die Finanzpolitik in ruhigeres Fahrwasser bringen. Die Lira hatte seit Jahresbeginn gegenüber Dollar und Euro zeitweise bis zu 45 Prozent verloren. Allein in diesem Jahr hat die Zentralbank mehr als 100 Milliarden Dollar für – vergebliche – Stützungskäufe ausgegeben.
Seit Albayraks Rücktritt hat die Lira etwas Terrain zurückgewinnen können, doch es bleibt offen, ob sich auf Dauer viel ändern wird. Um die Währung wirksam zu stützen und die Inflation von rund 12 Prozent in den Griff zu bekommen, müsste die Zentralbank die Leitzinsen von derzeit 10,25 Prozent deutlich anheben. Eine Erhöhung auf mindestens 13 Prozent könnte nächste Woche kommen. Bisher war Erdogan dagegen, doch am Mittwoch signalisierte er Zustimmung: Er werde „bittere Medizin“nicht scheuen, sagte er.
Allerdings wird Erdogan mehr ändern müssen als nur seine Meinung über Zinserhöhungen. Seine Einmischung in die Arbeit der Zentralbank, die Talfahrt der Lira, die hohen Devisenschulden von Untermit nehmen und Ankaras außenpolitische Abenteuer haben der Türkei als Investitionsstandort geschadet. Internationale Anleger hätten seit 2016 fast 120 Milliarden Dollar aus dem Land abgezogen, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters die Deutsche Bank.
Das Spektakel um Albayrak ist für Erdogan auch eine politische Schlappe. Seine Entscheidung, ein Mitglied seiner Familie in die Regierung zu bringen, habe sich als kostspieliger Fehler erwiesen, sagt Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Das Präsidialsystem, in dem Entscheidungen in kleinstem Kreis und ohne Kontrolle von außen fallen, habe eklatant versagt, meint Mithat Sancar, Ko-Vorsitzender der prokurdischen Partei HDP: „Die Wurzel des Problems ist dieses System.“
Zu diesem System gehören willfährige Medien. Weder die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu noch Zeitungen wie Hürriyet oder TV-Sender wie CNN-Türk wagten es, über Albayraks Rücktritt zu berichten, bis sie eine Weisung aus dem Präsidentenpalast erhielten. Von 1780 Radio- und Fernsehsendern im Land berichteten nach Zählung von Faruk Bildirici, einem früheren Oppositionsvertreter in der Rundfunkaufsichtsbehörde, nur fünf über den Rücktritt. Erst als Erdogan 24 Stunden nach Albayraks Instagram-Botschaft den Rücktritt seines Schwiegersohnes annahm, hoben die großen Medien ihre Nachrichtensperre auf. CNN-Türk, Hürriyet und andere gehören zu Großunternehmen, die Erdogans Regierung unterstützen, um sich das Wohlwollen des Präsidenten und öffentliche Aufträge zu verschaffen.