Rieser Nachrichten

„Alle sind kurz vorm Platzen“

Dieter Nuhr über Satire in Corona-Zeiten, schlechte Manieren im Internet und warum er trotzdem lieber Kabarettis­t als Lehrer ist

-

Herr Nuhr, Sie sind auch dieses Jahr mit einer Sendung in der ARD-Themenwoch­e vertreten – „Wie immer, Nuhr anders“am 19. November um 22.50 Uhr. Diesmal geht es darum, wie wir leben wollen. Was heißt das für Sie mitten in der Corona-Krise?

Dieter Nuhr: Da besteht der Sinn des Lebens natürlich erst mal im Überleben, gesundheit­lich und ökonomisch. Für viele ist ja spätestens mit dem zweiten Lockdown der Deckel drauf. Wenigstens hat Herr Scholz versproche­n, dass er das Ganze bezahlt, leider nicht von seinem Geld, und auch nicht von unserem, sondern von dem Geld, was unsere Urenkel irgendwann erwirtscha­ften. Das ist gut, wenn jemand zahlt, der noch gar nicht am Leben ist. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Wie hat Corona Ihr Leben beeinfluss­t, als Kabarettis­t und als Privatmens­ch? Nuhr: Es gibt zwei zentrale Dinge in meinem Leben: Tournee und Reisen. Beides ist abgesagt. Da kommt man erst mal zur Ruhe. Ich habe ein Buch geschriebe­n und arbeite weiterhin an meinen Sendungen, insofern bin ich in einer Art TeilzeitVo­rruhestand.

Ist Humor in einer solchen Krise noch wichtiger als sonst?

Nuhr: Der Grundzusta­nd des Lebens ist ja Krise, denn mit der Geburt beginnt ein immerwähre­nder Versuch, den Tod zu vermeiden. Humor hilft dabei. Die lächerlich­e Sinnlosigk­eit des Daseins, das ja in erster Linie aus Nahrungsau­fnahme und Verdauung besteht, lässt sich nur sinnvoll verarbeite­n, indem man sie auslacht. Als Dienstleis­ter übernehme ich diese Arbeit auch für andere.

Mit Ihrer Art von Humor kommen viele nicht zurecht, Sie werden oft angefeinde­t. Regen Sie sich noch über jeden Shitstorm auf oder haben Sie sich ein dickes Fell zugelegt?

Nuhr: Humor ist ja nicht jedem gegeben. Da kann man nichts machen. Oft wird auch bei dem, was ich sage, die Ironie nicht verstanden. Außerdem mögen es viele Leute nicht, wenn ihr eigener Standpunkt infrage gestellt wird. Witze sind zwar erlaubt, aber immer nur über die anderen. Viele Menschen fühlen sich durch abweichend­e Standpunkt­e persönlich beleidigt und beschimpfe­n mich wahlweise als Nazi, Kommunist oder Ungläubige­n. Wobei das mit dem „ungläubig“vielleicht sogar stimmt. Ich kann es nicht ändern.

Es gelingt Ihnen mit Ihren Auftritten laut eigener Aussage fast immer, dass fast alle Seiten beleidigt sind. Hat die Bereitscha­ft zum Beleidigts­ein in den vergangene­n Jahren zugenommen?

Nuhr: Da können Sie mal von ausgehen. Durch die sozialen Medien wird heute jeder noch so irrsinnige Standpunkt verstärkt. Viele Menschen hoffen auf Erlösung, das war schon immer so. Aber vor Facebook und Telegram wurde das nicht öffentlich. Heute ist man überrascht, wenn ein veganer Koch zum Revolution­är mutiert oder ein Mannheimer Schmusesän­ger von der Weltherrsc­haft der Reptiloide­n säuselt. Nicht nur die Bereitscha­ft zum Beleidigts­ein hat zugenommen, auch der Wahnsinn, vielleicht ist er aber auch nur sichtbarer geworden…

Und wann sind Sie beleidigt?

Nuhr: Selten. Ich habe ja einen Ruhepuls von 45 und bin aggressiv gestört, also mir fehlt das klassische Wutbürger-Gen.

Warum verlaufen viele Dispute so aufgeregt und polemisch?

Nuhr: Im Internet äußert man sich ähnlich wie im Auto. Da man keine direkte Nähe zu den anderen Verkehrste­ilnehmern hat, beschimpft man sie. Das macht die Anonymität. Der gleiche Vorgang findet im Internet statt. Kommunikat­ion ist eben doch mehr als Informatio­nsweiterga­be. Körperlich­e Nähe erzeugt Höflichkei­t und Zuneigung. Jeder Psychologe wird das bestätigen. Deshalb herrscht im Internet eine

Stimmung wie im Stau. Alle sind kurz vorm Platzen.

Kann das je wieder korrigiert werden? Nuhr: Nur durch Aufhebung der Anonymität. Aber wie soll das gehen? Ich weiß es nicht. Wahrschein­lich müssen wir lernen, mit dem offensicht­lichen Irrsinn zu leben. Im besten Fall vergisst man nicht, dass auch im eigenen Hirn mal nicht alles glattläuft. Dann kommt man auch mit Wahnsinn bei anderen zurecht.

Bereuen Sie es manchmal, nicht doch Lehrer geworden zu sein?

Nuhr: Was? Nein! Ich trete lieber vor Freiwillig­en auf und bestimme den Lehrplan selbst. Ich bin didaktisch und fächerüber­greifend mein eigener Herr. Das würde ich niemals aufgeben.

Und wie lange wollen Sie noch als Kabarettis­t durch die Lande ziehen? Nuhr: Wenn ich tot bin, höre ich auf. Versproche­n.

Interview: Martin Weber

Dieter Nuhr ist einer der umstritten­s‰ ten Kabarettis­ten Deutschlan­ds. Er wurde in Wesel geboren, kürzlich hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert. Nuhr lebt in Ratingen bei Düsseldorf, er ist verheirate­t und hat eine Tochter.

 ?? Foto: Marcel Kusch, dpa ?? Dieter Nuhr polarisier­t. Er selbst sagt, er werde „wahlweise als Nazi, Kommunist oder Ungläubige­r“beschimpft.
Foto: Marcel Kusch, dpa Dieter Nuhr polarisier­t. Er selbst sagt, er werde „wahlweise als Nazi, Kommunist oder Ungläubige­r“beschimpft.

Newspapers in German

Newspapers from Germany