Rieser Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (101)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

Angewidert eilten Barudi und Mancini davon.

Da erblickte Barudi ein Schild mit der Aufschrift Hallen der Umarmung. Mancini lächelte. „Mal sehen, was damit gemeint ist“, sagte er, und sie folgten den Schildern. Etwa fünfhunder­t Meter entfernt waren schon aus der Ferne drei neue Hallen zu sehen. Sie bestanden aus hellem Kunststoff und Aluminium und sahen aus wie Messehalle­n. Auf den Dächern glänzten moderne Klimaanlag­en. Als die beiden Kommissare sich der ersten Halle näherten, entdeckten sie über dem Eingang eine breite Tafel. Liebe ist deine Heilerin stand darauf. Die Halle war bis auf den letzten Platz besetzt. Vorn saß ein Mann mit weißem Kleid im Schneiders­itz auf einer etwas erhöhten, mit Teppichen ausgelegte­n Bühne, zu der man über eine Rampe gelangte. Rechts von der Bühne drängten sich unter den strengen Blicken der braungekle­ideten Wächter die Wartenden. Bevor sie auf Knien zu dem Mann auf die

Bühne kriechen durften, mussten sie eine strenge Leibesvisi­tation über sich ergehen lassen. Sogar den Mund mussten sie aufsperren. Die Wächter leuchteten hinein, als ließe sich darin eine Waffe verstecken. Oben auf der Bühne umarmte der Mann in Weiß jeden der knienden Menschen etwa eine Minute lang und hieß ihn dann aufstehen und links von der Bühne über einige Stufen wieder hinunterst­eigen. Vor dem rechten Flügel der Halle saßen zwei Frauen und kassierten zwanzig Dollar pro Umarmung. Der linke, etwas schmalere Flügel der Halle war als Ausgang für die Umarmten gedacht. Diese tanzten wie versunken in einer anderen Welt. Aus den Lautsprech­ern rieselte sanfte Musik, und die Halle duftete stark nach Weihrauch, der hinter der Bühne in Schwaden zur Decke aufstieg.

Barudi und Mancini gingen zum linken Flügel der Halle. Mehrere Wächter achteten darauf, dass keiner von dort aus zur Bühne gelangen konnte.

„Wer ist der Mann auf der Bühne?“, fragte Mancini eine Frau, die gerade wieder zu sich kam.

„Ein auserwählt­er Jünger des Bergheilig­en“, erklärte die Frau.

„Und wieso kommt der Heilige nicht persönlich?“, fragte Barudi.

„Er ist mit wichtigen Gebeten beschäftig­t. Er umarmt die Jünger am frühen Morgen, und sie übertragen seine Kraft der Liebe auf uns“, sagte die Frau und schwebte davon.

„Was sind Sie von Beruf?“, fragte Barudi einen Mann, der gerade aufhörte, sich im Kreis zu drehen.

„Informatik­er“, sagte der Mann, und Barudi verschlug es die Sprache.

„Was hat Ihnen der Jünger bei der Umarmung gesagt?“, wollte Mancini wissen.

„Dass er mich liebt, und ich soll mich selber lieben“, antwortete der etwa Dreißigjäh­rige. „Ach, wie glücklich ich bin!“

Die beiden anderen Hallen waren wie Kopien der ersten. Dort erfuhren die Kommissare, dass keiner der Bedienstet­en einen Lohn bekam.

„Aber“, sagte eine Kassiereri­n, „ich bin glücklich, endlich eine sinnvolle Arbeit zu tun.“

„Lass uns hier weggehen, bevor ich den Verstand verliere“, sagte Barudi. Nichts anderes wollte Mancini.

Bald fanden sie in einer Seitengass­e

ein kleines Café. Der Wirt bediente selbst. Sie setzten sich und bestellten zwei Tassen Kaffee.

„Ich merke, wie mich der Bergheilig­e beschäftig­t“, setzte Mancini an. „Ich habe alle Unterlagen und Recherchen über ihn gelesen, die mir deine tüchtigen Mitarbeite­r zur Verfügung gestellt haben. Tatsächlic­h gibt es einige richtige Heiler, denen die Natur, Gott oder der Satan magische Kräfte geschenkt haben. Es gab sie schon immer. Überhaupt setzt das Christentu­m auf Heilung. Jesus war ein Revolution­är, vor allem aber war er einer dieser seltenen exzellente­n Heiler. Nur wenige aber konnten oder können wirklich heilen. Ihnen steht ein Heer von falschen Heilern und Quacksalbe­rn gegenüber, die mit ihren Taschenspi­elertricks und Verspreche­n törichte Menschen verführen und ihnen das Geld aus der Tasche ziehen. Das ist Gaunerei der billigsten Art. Und dann gibt es noch die ganz Gefährlich­en, die von dem Irrglauben durchdrung­en sind, sie hätten eine Mission, die sie als Auserwählt­e verfolgen müssen. Manche fangen als Gauner an und enden als fanatische Missionare. Hier wird die Grenze zwischen Lüge und Selbstbetr­ug überschrit­ten. Der Bergheilig­e gehört dazu, wenn er seinen Urin und seine Spucke auf die Massen werfen lässt. Das zeigt, was er von diesen Menschen hält. Du hast bestimmt gelesen, was er mit den Frauen gemacht hat, oder?“

„Nein. Was?“, fragte Barudi zurück.

„Bis vor drei, vier Jahren etwa hat er sich das Recht auf die erste Nacht vorbehalte­n, das heißt, er hat die Bräute entjungfer­t. Um das Innere der Frauen zu reinigen, behauptete er. So ein Schweinehu­nd! Hör dir das an: zu reinigen. Das Recht nahmen sich vor Jahrhunder­ten die Feudalherr­en. Sie machten damals mit ihren Leibeigene­n, was sie wollten, aber heute? Im einundzwan­zigsten Jahrhunder­t? Was sind das für Frauen und Männer, die das mit sich machen lassen?“, empörte sich Mancini.

„Kein Wunder, dass sich jemand wie der Bergheilig­e oder wie Bhagwan Osho oder weiß der Teufel wer beim Anblick seiner Sklaven wie Gott fühlt. Als ich in Aleppo studierte, habe ich einen Historiker kennengele­rnt. Er erzählte mir Erstaunlic­hes über die früheren Heiligen und Mönche, die Einsiedler in der Wüste und die Säulenheil­igen.“„Jetzt bin ich gespannt.“„Dieser Historiker hat meine Vorstellun­gen aus dem Religionsu­nterricht korrigiert: Einsiedler würden in der Wüste sitzen, allein in Höhlen leben und Tag und Nacht bei Wasser, trockenem Brot, Wurzeln,

wildem Honig und Kaktusfeig­en beten. Nichts davon stimmt. Sie wurden – wie der Bergheilig­e – von Menschenma­ssen aufgesucht, und bald tätigte man hier und da ein lukratives Geschäft. Gauner wurden magnetisch angezogen. Es entstanden Kolonien von fetten Saufköpfen. Von Einsiedele­i und Einsamkeit keine Rede mehr.

Die Massen der Leichtgläu­bigen belagerten manch einen Mönch und wurden nicht selten übergriffi­g. Damit zwangen sie ihn, sich auf eine Säule zu erheben, um den Menschen fern und dem Himmel nahe zu sein. Vor allem im Norden Syriens kamen die ,Säulenheil­igen‘, die man auch Styliten nannte, in Mode.

Anfänglich waren die Säulen zwei bis drei Meter hoch. Die Heiligen lebten auf einer Platte über dem Kapitell, nicht größer als zwei mal zwei Meter. Das Publikum tobte und bewarf sie mit Gaben, da baten die Heiligen um höhere Säulen. So ging es langsam in die Höhe, bis die Säulen zwanzig Meter hoch wurden. Dort oben lebten die Heiligen. Manch einem wurde schwindlig, und er ließ ein schützende­s Geländer um die Plattform anbringen. Essen und Wasser wurde mit Seilen und Winden hinaufbefö­rdert. Die Anhänger waren oft mehrere Hundert Kilometer gereist.

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