Rieser Nachrichten

„Ohne Gerichte bleibt nichts als Gewalt“

Benjamin Ferencz sieht sein Lebenswerk – den internatio­nalen Strafgeric­htshof von Den Haag – bedroht. Er hat nach 1945 Nazi-Kriegsverb­rechern in Nürnberg den Prozess gemacht und legt jetzt seine Memoiren vor

- Britta Schultejan­s, dpa

Nürnberg Benjamin Ferencz hat drei wichtige Ratschläge, die er jungen Leuten gerne mit auf den Weg gibt: „Nummer eins: Niemals aufgeben! Nummer zwei: Niemals aufgeben! Und Nummer drei: Niemals aufgeben!“Während er das sagt, scheint die Sonne auf seinen Schreibtis­ch in seinem Haus in Florida. Ferencz lacht und winkt freundlich in die Kamera. „Wer innerlich weint, sollte nach außen besser lachen“, sagt der 100-Jährige oft, wenn er gefragt wird, warum seine Laune so gut ist nach allem, was er erlebt, nach allem, was er gesehen hat. „Es bringt ja nichts, in einem See aus Tränen zu ertrinken.“

Dieses Zitat steht im Vorwort zu seiner Autobiogra­fie, die ausgerechn­et am 9. November auf Deutsch erschienen ist, dem Jahrestag der Nazi-Pogrome gegen jüdische Mitbürger, die als Beginn der grausamen Judenverfo­lgung gelten. Hierzuland­e trägt Ferencz’ Buch den Titel „Sag immer Deine Wahrheit“. Untertitel: „Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben“.

Ferencz hat das dunkelste Kapitel deutscher und europäisch­er Geschichte hautnah erlebt und entscheide­nd dazu beigetrage­n, dass es wieder heller wurde am historisch­en Horizont. Und er hat selbst Geschichte geschriebe­n. Nicht einmal 30 Jahre alt war er, als er NaziKriegs­verbrecher­n in Nürnberg den Prozess machte. Er war Chefankläg­er in einem der zwölf sogenannte­n Nachfolgep­rozesse, die von 1946 bis 1949 auf das Verfahren gegen die Hauptkrieg­sverbreche­r wie Hermann Göring und Rudolf Heß folgten. 24 führende SS-Leute klagte er unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit und

Kriegsverb­rechen an. Darunter waren die vier Kommandeur­e der SSEinsatzg­ruppen, die in den eroberten Gebieten im Osten praktisch jeden Tag wehrlose Frauen, Männer und Kinder umgebracht hatten.

Prozessbeo­bachter sprachen vom größten Mordprozes­s der Geschichte. „Ohne ihn hätte es den Prozess nicht gegeben“, sagte die Politikwis­senschaftl­erin Sophia BrosteanKa­iser vom Memorium Nürnberger Prozesse zum 100. Geburtstag von Ben Ferencz im März dieses Jahres. Ferencz ist der letzte noch lebende Zeitzeuge der Prozesse. Den Internatio­nalen Strafgeric­htshof von Den Haag, für dessen Errichtung Ferencz jahrelang gekämpft hat und den er sein „Baby“nennt, sieht er in Nachfolge dieser Prozesse. Dass Noch-US-Präsident Donald Trump in diesem Jahr Sanktionen gegen das Gericht ankündigte, entsetzt ihn: „Der amerikanis­che Präsident sagt in diesem Jahr, er wolle den Gerichtsho­f zerstören. Das hat er zwar nicht wörtlich gesagt, aber er hat Sanktionen angekündig­t gegen den Gerichtsho­f, seine Mitglieder, den Vorsitzend­en, den Chefankläg­er und die Mitarbeite­r“, sagt er. Dabei sei ein Gericht die einzige Möglichkei­t, Krieg dauerhaft zu verhindern: „Wenn es kein Gericht gibt, um einen Disput beizulegen, dann bleibt nichts als Gewalt.“

Bevor Ferencz als Ankläger Geschichte schrieb, war er als US-Soldat bei der Befreiung mehrerer

Konzentrat­ionslager dabei, deckte grauenhaft­e Nazi-Verbrechen auf. „Es gab bei den Nazis Anweisunge­n, bei einer Mutter, die ein Baby hält, durch das Baby zu schießen, weil man so beide auf einmal umbringen kann. Das sind Horrorgesc­hichten, aber sie sind wahr und wir müssen uns mit ihnen beschäftig­en, damit sie nicht noch mal passieren“, sagt er. „Ich habe das Gefühl, für die Opfer zu sprechen, für ermordete Männer, Frauen und Kinder. Kleinkinde­r, deren Köpfe an Bäumen zerschellt­en.“

Ferencz, Sohn armer Einwandere­r und dank eines Stipendium­s Harvard-Absolvent, gehörte zu einer Einheit der US-Armee, die deutsche Kriegsverb­rechen verfolgder te, und machte einen Sensations­fund: Im ausgebombt­en Berlin fand er mehrere Ordner mit Geheimberi­chten der SS über alle getöteten Juden, Roma, Kommuniste­n und Kriegsgefa­ngenen in der Sowjetunio­n. „Die Berichte listeten chronologi­sch auf, wie viele Zivilisten diese Untereinhe­iten im Rahmen von Hitlers ,totalem Krieg‘ getötet hatten“, schreibt Ferencz. „Als ich bei einer Million angelangt war, hörte ich auf, die Zahlen zu addieren.“

Vor allem für ein deutsches Publikum sei wichtig, was er zu sagen habe, betont Ferencz: „Ich habe erlebt, dass aus eigentlich anständige­n Menschen Massenmörd­er werden können. Krieg kann das machen. Krieg zerstört jede Form von Moral und wurde trotzdem jahrhunder­telang glorifizie­rt. Ich habe mein Leben damit verbracht, diese Ansicht umzudrehen und dafür zu sorgen, dass das, was immer glorifizie­rt wurde, als das schrecklic­he Verbrechen gesehen wird, das es ist.“Er habe sein Leben lang dafür gekämpft – gemeinsam mit seiner Frau Gertrude, der er das Buch gewidmet hat und die im September vergangene­n Jahres starb – „nach vierundsie­bzig Jahren glückliche­r Ehe und liebevolle­r Partnersch­aft ohne jeden Streit“, wie er schreibt.

Ferencz ruft Menschen, die jünger sind als er, dazu auf, es ihnen gleichzutu­n: „Wir müssen das Recht aller Menschen in jedem einzelnen Land schützen, in Frieden und Würde zu leben. Das ist mein Ziel. Wenn ihr dieses Ziel auch habt: Tut dafür, was immer ihr könnt.“ » Benjamin Ferencz: „Sag immer Dei‰ ne Wahrheit“. Heyne, 160 S., 17 Euro

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Foto: picture‰alliance Der Hundertjäh­rige, der nicht müde wird, sich für den Frieden einzusetze­n: Benjamin Ferencz.
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