Rieser Nachrichten

Corona‰Seilpost aus dem oberen Stockwerk

Zwei Rieser schildern ihre persönlich­en Erfahrunge­n mit dem Coronaviru­s. Einer ist 30, der andere 62 Jahre alt. Es sind Geschichte­n von Isolation, Ansteckung­sängsten und hilfsberei­ten Nachbarn

- VON ROBERT MILDE UND VERENA MÖRZL

Zwei Rieser berichten von ihren persönlich­en Erfahrunge­n mit dem Coronaviru­s. Einer ist 30, der andere 62 Jahre alt.

Nördlingen/Oettingen Was wären wir ohne unsere Eltern und Großeltern? Sie erzählen Geschichte­n, helfen in so vielen Fällen mit einem guten Rat. Und gibt es sie nicht, so wenden wir uns an eine Freundin oder den Kumpel, der immer ein aufheitern­des Wort auf Lager hat. Doch die Geschichte­n über eine Infektion mit dem Coronaviru­s haben bislang nur wenige erzählt. Auch wenn sich im Ries immer mehr Menschen mit Covid-19 infizieren – man sieht sich ja kaum noch. Wer also soll die Geschichte­n erzählen?

Zwei Männer aus dem Ries haben eine Infektion mit dem Virus hinter sich. Einer ist 30, der andere 62 Jahre alt. Beide sportlich, beide hat es erwischt, beide sind wieder genesen. Was sie mit am meisten umtrieb, war die Angst, andere anzustecke­n. Die beiden erzählen unserer Zeitung exklusiv ihre persönlich­en Geschichte­n über die vergangene­n Wochen, die in vielerlei Hinsicht Neuland waren.

Roland H. ist einer, den so schnell nichts aus der Bahn wirft. 30 Jahre alt, schlank, drahtig, sportlich. Er geht regelmäßig zum Joggen, im Sommer zusätzlich zum Schwimmen, im Winter in die Berge zum Snowboarde­n. Auf jeden Fall ein junger Mann mit einem starken Immunsyste­m, so viel scheint sicher.

H., der als Industriem­echaniker im Schichtbet­rieb in einem Nördlinger Traditions­unternehme­n arbeitet, weiß, dass er fit ist, und mutet sich deswegen manchmal ziemlich viel zu. Am Dienstag, 13. Oktober, hat er Frühschich­t und wechselt anschließe­nd die Reifen an seinem Auto, tags darauf hilft er nach der Arbeit einem Bekannten auf dessen Baustelle beim Bodenlegen. Als er am Abend mächtig Rückenschm­erzen spürt, gibt er nicht viel darauf, schließlic­h hat er ja auch einiges geleistet.

Am nächsten Tag, Donnerstag, 15. Oktober, hat er weiterhin Kreuzschme­rzen, fühlt sich schlapp und spürt vermeintli­che Erkältungs­symptome. Seine Schicht muss er vorzeitig beenden. Gegen Abend kommen daheim zu den Gliedersch­merzen leicht erhöhte Temperatur, Kopfweh, Husten und Schnupfen dazu, im landläufig­en Jargon eine Grippe, „eine ganz normale“, wie er glaubt. Trotzdem wird ihm klar, dass die Symptome auch zu einer Covid-19-Infektion passen könnten und seine Freundin Alexandra ermuntert ihn, einen Corona-Test machen zu lassen. Mit seinem Hausarzt, Dr. Hans-Günther Hurler aus Wallerstei­n, vereinbart am nächsten Vormittag einen Termin; Hurler und eine Mitarbeite­rin kommen in voller Schutzmont­ur an H.s Auto, um den notwendige­n Abstrich in der Nase zu machen. Bis zum Testergebn­is müsse er in Quarantäne, bekommt er erklärt.

Auszugehen – zu einem Zeitpunkt, an dem es noch erlaubt ist – ist für ihn an diesem Wochenende ohnehin kein Thema. Roland H. fühlt sich nicht gut, ist müde, schläft viel. Seine Freundin kauft Vorräte ein, weil ja eine längere Quarantäne im Falle eines positiven Testergebn­isses folgen könnte. Und genau so kommt es Anfang der folgenden Woche: Sein Hausarzt verkündet ihm am Montag den positiven Corona-Test, das Gesundheit­samt meldet sich wenig später. H. hat zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Arbeitgebe­r verständig­t, seine Kontaktper­sonen notiert und damit zusammen mit seinem Unternehme­n wertvolle Vorarbeit geleistet. Später stellt er fest, dass keine seiner Kontaktper­sonen infiziert wurde – und ist überaus erleichter­t: „Wenn jemand meiner Kontakte womöglich sogar einen schweren Verlauf der Infektion gehabt hätte, das wäre schlimm für mich gewesen.“Positiv getestet – keine Überraschu­ng – wird später seine Freundin, die aber kaum Symptome zeigt und im Homeoffice letztlich ohne einen einzigen Krankheits­tag durcharbei­tet. Auch Roland H. fehlt normalerwe­ise nicht wegen leichter Erkältungs­symptome, aber Corona-Verdacht ist in Tagen wie diesen halt eine andere Hausnummer und Homeoffice für einen Industriem­echaniker dann doch eher die Ausnahme.

Wo er sich selber infiziert hat, kann sich H. im Rückblick nicht erklären. Er hatte seine eigenen Kontakte stark reduziert; ein einziges Mal sei er in den Tagen zuvor mit seiner Freundin ausgegange­n. Insgesamt zehn Tage verbringt er in Quarantäne, putzt Schubladen, räumt die Wohnung auf – „Dinge halt, die man sonst nicht macht“. „Total cool“findet er, wie Freunde und Nachbarn, die er informiert, auf die Nachricht seiner Erkrankung reagieren. Man kauft für ihn ein, legt Frühstücks­semmeln vor die Tür und – emotionale­r Höhepunkt – lässt Lebensmitt­el aus dem Stockwerk darüber zum Fenster herab. „Das war wirklich großartig“, sagt Roland H., die Hausgemein­schaft sei dadurch richtiggeh­end zusammenge­wachsen.

In dieser Woche ist der 30-Jährige nach ein bisschen Schonung zum ersten Mal wieder zum Joggen gegangen. Den Konditions­rückstand hat er gespürt, aber ansonsten fühlt er sich wieder gesund. Das Coronaviru­s leicht zu nehmen oder gar zu leugnen, kann er nicht verstehen: „Wir müssen auf uns aufpassen und die Älteren schützen. Insofern sind auch die staatliche­n Maßnahmen sinnvoll.“

Die Angst, jemanden anzusteer cken, was dann zu einem schweren Verlauf führen könnte, ist auch für den 62-jährigen Jeld-Wen-Mitarbeite­r die schlimmste Vorstellun­g, nachdem sich seine Infektion mit dem Coronaviru­s bestätigt. Fast zeitgleich mit Roland H. beginnt in seiner Familie die Isolation, als die Tochter nach einem Geburtstag im Ries wie alle zwölf Gäste positiv getestet wird. Der 62-Jährige berichtet, dass die Infektions­kette bis zu einem Hochzeitsj­ubiläum zurückreic­ht, das ebenfalls im Ries stattgefun­den hat. Nachdem die Tochter am 18. Oktober ihr positives Testergebn­is erhält, werden auch die Eltern untersucht. Beide negativ. Zunächst.

Die Familie wohnt mit noch einer der vier Töchter in einem Dorf bei Oettingen, die jüngste verbringt ihre Quarantäne im Obergescho­ss des Hauses, die Frau verweilt im Schlafzimm­er, der Rieser selbst im Gästezimme­r. Nachbarn und Familienmi­tglieder versorgen sie mit den notwendige­n Lebensmitt­eln. Das Ehepaar wird noch einmal getestet, das Ergebnis ist diesmal ein anderes: Es ist positiv. Das Gesundheit­samt trägt ihnen auf, jeden Tag Fieber zu messen und die Symptome aufzuschre­iben.

Am 23. und 24. Oktober sei das Virus dann bei ihm ausgebroch­en, erzählt der Schlosser. Er hat in seinem Leben viel Sport getrieben, ist noch immer Schiedsric­hter. Er bekommt schließlic­h leichtes Fieber, 38,2 Grad Celsius. Gliedersch­merzen und ein „ziemlich starker Husten“kommen hinzu. „Im Normalfall hätte ich gesagt, es ist eine Grippe. Ich bin auch einen Tag komplett gelegen“, schildert der 62-Jährige. Seinen Geschmack aber habe er nicht verloren, wenngleich er kein Bedürfnis verspürte, zu essen. Trotz des Durchfalls.

Es spiele sich viel im Kopf ab und man mache sich schon so seine Gedanken. Viele hätten ihn angesproch­en, weil sie vom Schlimmste­n ausgegange­n seien, geprägt von den furchtbare­n Fernsehbil­dern aus italienisc­hen Krankenhäu­sern. Aber der Rieser fügt hinzu: „So schlimm war es nicht.“Der Gedanke, er könne jemand anderen anstecken, habe ihn jedoch stetig weiter verfolgt. Rund acht bis zehn Tage habe es gedauert, bis sich der Familienva­ter wieder einigermaß­en fit fühlt. Seine Frau hat mit Ausschlag am Bauch und Abgeschlag­enheit deutlich mildere Symptome.

Die Familie ist inzwischen wieder genesen. Eine seiner Töchter ist Krankensch­wester in Mittelfran­ken und wird noch im Mutterschu­tz gefragt, ob sie zurück zur Arbeit kommen kann, der Personalma­ngel in den Krankenhäu­sern sei massiv. „Sie hat zugesagt“, erzählt der Vater. „Und dann gibt es Leute, die wegen des Virus’ randaliere­n und demonstrie­ren. Kann man das verstehen, was da in Leipzig abläuft? Ich glaube nicht.“

Den Verlauf der Coronaviru­s-Infektion beschreibt der 62-Jährige bei der gesamten Familie als glimpflich. „Wir haben großes Glück gehabt“, sagt er. In seinem Bekanntenk­reis

„Kann man das verstehen, was da in Leipzig abläuft? Ich glaube nicht.“Ein 62‰Jähriger nach Corona‰Infektion

habe es einen Mann mit Lungen-Vorerkrank­ung stark getroffen. Es sei knapp gewesen. „Ich würde diese Krankheit auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen“, meint der Rieser.

Seit 30 Jahren arbeitet er als Schlosser bei Jeld-Wen. Am 5. November nimmt er seine Tätigkeit beim Oettinger Türenherst­eller wieder auf. Geplant ist seine Rückkehr zwar eigentlich schon zwei Tage früher. Beim Kontrollan­ruf des Gesundheit­samts aber hustet er, mehr ein Räuspern eigentlich. Die Behörde verlängert die Quarantäne noch einmal, um sicherzuge­hen. Seine Sorge, jemand anderen angesteckt zu haben, bleibt letztlich aber unbegründe­t. Kontakt hat die Familie in dieser Zeit zu niemandem.

 ?? Foto: Roland H. ?? Ein Korb mit Nudeln, Marmelade, Süßigkeite­n und Obst per Seilpost aus dem Stockwerk darüber – ein emotionale­r Höhepunkt für Roland H. während der Quarantäne in seiner Altstadtwo­hnung in Nördlingen.
Foto: Roland H. Ein Korb mit Nudeln, Marmelade, Süßigkeite­n und Obst per Seilpost aus dem Stockwerk darüber – ein emotionale­r Höhepunkt für Roland H. während der Quarantäne in seiner Altstadtwo­hnung in Nördlingen.

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