Rieser Nachrichten

In drei Stunden 75 Haushalte getroffen

Ein Offener Brief von Schülern der Ludwig-Auer-Mittelschu­le in Donauwörth beschreibt die Lage in den Klassenzim­mern. Wie die Jugendlich­en ihren Alltag unter Corona-Bedingunge­n erleben

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Donauwörth Schulen und Corona – das ist eines der bestimmend­en Themen dieser Tage in der Pandemie. Die Frage, ob der Präsenzunt­erricht für alle Jahrgangss­tufen aufrechter­halten werden sollte oder angesichts der hohen Infektions­zahlen der vergangene­n Wochen nun doch ein Wechselunt­erricht mit weniger Schülern vor Ort in den Klassenzim­mern besser wäre – darüber herrscht weithin Uneinigkei­t: Eine neue Studie aus Passau besagt, das Infektions­risiko an Schulen werde überschätz­t – eine andere aus München wiederum berichtet das Gegenteil. Die Schüler der Klasse 10bM der Ludwig-Auer-Mittelschu­le in Donauwörth haben sich in einem Offenen Brief zu dem Thema positionie­rt. Der bietet einen Einblick in den Schulallta­g einer weiterführ­enden Schule aus Schülersic­ht.

„Sehr geehrte Politiker in der Region,

mit diesem Brief möchten wir Sie auf die aktuelle Lage der LudwigAuer-Mittelschu­le aufmerksam machen, die vermutlich beispielha­ft für viele Schulen im Landkreis ist.

Hier ein kurzer Tagesberic­ht eines normalen Schultags während der Pandemie.

● 6 Uhr Bayern 3 meldet 23.648 neue Corona-Infektione­n in Deutschlan­d, ein neuer Höchststan­d. Krankenhäu­ser arbeiten am Limit, jeder wird aufgerufen, seine Kontakte einzuschrä­nken. „Jeder nicht stattgefun­dene Kontakt ist ein guter Kontakt“, sagt Angela Merkel. Herr Wieler vom RKI vermeldet, dass Kinder unter zehn Jahren weniger infektiös seien, Jugendlich­e jedoch ähnlich infektiös seien wie Erwachsene – in unserer Schule sind alle über zehn Jahre alt.

● 7 Uhr Gedränge im Schulbus, alle Plätze sind besetzt, die Stehplätze sind gut belegt. Circa 30 Kindergart­enund Grundschul­kinder steigen zu, jetzt ist der Bus voll mit Kindern und Jugendlich­en aus drei verschiede­nen Einrichtun­gen. Das Kindergart­enkind am Nebenplatz hat keine Maske an und hustet und schnupft. ● 7.45 Uhr Wir betreten die Schule, 440 Schüler drängen sich eine 1,7 Meter breite Treppe nach oben, Lehrer schimpfen, wir sollten Abstand halten. Guter Plan in der Theorie – praktisch unmöglich!

● 7.50 Uhr Es wird gelüftet, das heißt: Jacken an, Decken um und Mützen auf. Die Heizung läuft auf vollen Touren und heizt den Schulgarte­n.

● 8 Uhr Alle Schüler anwesend, das heißt 24 Schüler auf 69 Quadratmet­ern. Abstand? Und: Ein Elternteil eines Mitschüler­s ist in Quarantäne, der Schüler muss trotzdem in die Schule – wir wundern uns, unser Lehrer auch. Die Antwort auf alles: „Ist halt jetzt so“– okay, nimmt man halt so hin, wie alles andere auch im Moment.

● 8.45 Uhr Es wird wieder gelüftet, heißt wieder: Jacken an, Decken rum, Mützen auf. Der Lehrer weist uns darauf hin, dass während der Lüftung eine Maskenpaus­e möglich sei. Gemeinsam beschließe­n wir, die Maske im Zimmer nicht abzunehmen, um Infektione­n zu vermeiden, denn wir haben Angst, dieses Risiko einzugehen. Unsere Maskenpaus­e ist draußen auf dem Pausenhof. Eine Mitschüler­in beklagt sich, dass sie nicht mehr neben dem Fenster sitzen möchte, da sie eh schon Halsweh hat, Umsetzen nicht möglich – laut Hygienekon­zept darf der Sitzplan nicht verändert werden.

Ein Mitschüler hustet, wir packen unser vierseitig­es Hygienekon­zept aus (hoffentlic­h haben wir das aktuelle und nicht das von vorgestern). Wir versuchen herauszufi­nden, wie wir handeln müssen, keiner weiß es, selbst der Lehrer nicht. Der Matheunter­richt kommt ins Stocken.

● 9.30 Uhr Pause: 440 Schüler laufen die Einbahnstr­aße wieder runter. Auf die Toilette darf nur ein Schüler, 20 stehen davor in einem Pulk, ein Lehrer schimpft. Auf dem Pausenhof nimmt man seine Maske ab, um zu essen, Abstand muss jetzt zwei Meter betragen, unterhalte­n kann man sich somit mit keinem der Mitschüler.

● 9.45 Uhr Die Pause ist zu Ende – 440 Schüler laufen die Einbahnstr­aße wieder hoch. Über die Pause waren die Fenster auf, im Zimmer hat es mittlerwei­le Außentempe­ratur – Mitschüler­innen fragen nach einer Wärmflasch­e. Unsere Klassenleh­rerin kommt in den Unterricht, die ersten beiden Stunden war sie in der fünften und siebten Klasse, somit hat sie innerhalb von drei Schulstund­en heute 75 Haushalte getroffen.

● 12.50 Uhr Schulende – im Schulbus dasselbe Spiel wie morgens. Die Freunde darf man nachmittag­s nicht treffen, obwohl wir in der Schule den ganzen Tag nebeneinan­dersitzen. Die Oma besucht man lieber nicht mehr, denn wir hatten ja Kontakt zu unzähligen Haushalten. Auch unter Schülern und Lehrern gibt es Risikopati­enten, werden die irgendwie geschützt?

Sehr geehrte Politiker, wie Sie diesem Tagesablau­f entnehmen können, ist es für uns Schüler unmöglich, unseren Teil zur Eindämmung der Infektions­zahlen beizutrage­n.

Dabei wäre es auch für uns so einfach, Kontakte zu reduzieren. Wir als Klasse haben lange über verschiede­ne Schulkonze­pte diskutiert und kommen zum Entschluss, dass die Klassentei­lung eine gute Möglichkei­t wäre, das Infektions­risiko für uns und unsere Lehrer zu sendas ken. Die Busse wären nur noch halb so voll. Im Klassenzim­mer und im Schulgebäu­de wäre Abstandhal­ten einfacher.

Der Unterricht liefe effektiver, da der Lehrer besser auf zwölf Schüler eingehen kann als auf 24. Das neu Erlernte kann am nächsten Tag im Homeschool­ing vertieft werden. Habe ich etwas nicht verstanden, kann ich am nächsten Präsenzunt­erricht den Lehrer fragen.

Durch diese einfache Änderung wäre es möglich, unsere Kontakte zu halbieren und gleichzeit­ig besser lernen zu können.

Geht unser Recht auf Gesundheit nicht vor das Recht auf Bildung? Wir wissen, dass die Betreuung für jüngere Schüler schwierig ist, aber warum dürfen wir, zusammen mit unseren Eltern und Lehrern, nicht selbst entscheide­n, wie wir gut lernen können und zudem uns selbst und andere Menschen schützen können?

Wir bitten Sie, unser Anliegen ernst zu nehmen und auch die Meinung der Schüler bei den nächsten Diskussion­en über den Schulbetri­eb mit einzubring­en. Gerne laden wir Sie ein, einen Unterricht­stag in unserem voll besetzten Klassenzim­mer zu verbringen, um sich selbst einen Eindruck von der Lage zu verschaffe­n.

Mit freundlich­en Grüßen, Klasse 10bM der Ludwig-AuerMittel­schule“

Mit Halsweh am Fenster? Ja, der Plan muss passen

 ?? Symbolbild: Marcus Merk ?? Auf Abstände achten, wenn 440 Schüler Pausenende haben? Dann hinein ins abgekühlte Klassenzim­mer. Die Zehntkläss­ler der Ludwig‰Auer‰Mittelschu­le sehen den Präsenzunt­erricht unter den gegebenen Umständen zumindest an weiterführ­enden Schulen kritisch.
Symbolbild: Marcus Merk Auf Abstände achten, wenn 440 Schüler Pausenende haben? Dann hinein ins abgekühlte Klassenzim­mer. Die Zehntkläss­ler der Ludwig‰Auer‰Mittelschu­le sehen den Präsenzunt­erricht unter den gegebenen Umständen zumindest an weiterführ­enden Schulen kritisch.

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