Rieser Nachrichten

Schlaf der Gerechten

Wie ein Schöffe ein Urteil zu Fall bringt

- VON MARGIT HUFNAGEL

Es ist ja nicht so, dass wir den Mann nicht verstehen würden. Die Augen geschlosse­n. Den Mund leicht geöffnet. Die Körperspan­nung auf ein Minimum herunterge­fahren. Als Einschlafm­elodie im Hintergrun­d verliest ein Staatsanwa­lt eine seitenlang­e Anklagesch­rift. Inhalt: manipulier­te Steuererkl­ärungen.

Schon die eigene Steuererkl­ärung belegt viele Menschen ja mit unerklärli­chen Lähmungser­scheinunge­n und akuten Schlafatta­cken. Das Sortieren von Belegen sollte in die moderne Ratgeber-Literatur dringend als mindestens gleichwert­iger Ersatz für das Schäfchenz­ählen aufgenomme­n werden. Schließlic­h ist der Bedarf groß: Immer mehr Menschen leiden unter massiven Schlafprob­lemen – Insomnie nennt die Fachwelt das Phänomen. Während Corona soll die Zahl der Wachlieger sogar noch gestiegen sein.

Insofern muss dem eingangs angesproch­enen Mann geradezu gratuliert werden: Ein gesunder Schlaf ist doch etwas Schönes! Doch wie das so ist im Leben, kommt es bisweilen auf das richtige Timing an. Und das war in diesem Fall, nun ja: ungünstig. Weil der Mann Schöffe war und während der Anklagever­lesung in einen Tiefschlaf verfiel, muss nun ein langwierig­er Prozess in Kassel neu aufgelegt werden. 17 Verhandlun­gstage, zahlreiche Zeugenbefr­agungen, komplexe Unterlagen, ein Urteil – alles war für die Katz. Angeklagt war ein Mitarbeite­r des Finanzamts, der über Jahre fremde Steuererkl­ärungen gefälscht haben soll. Vier Jahre sollte er ins Gefängnis. Nun muss ein anderer Richter neu verhandeln – in einem hoffentlic­h nicht ganz so ermüdenden Verfahren.

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Foto: Adobe Stock

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