Rieser Nachrichten

Plötzlich systemrele­vant

Auf der Schwäbisch­en Alb stellt ein Mittelstän­dler spezielle Kühlschrän­ke her. Für die Ausstattun­g der Covid-Impfzentre­n wird jetzt im Vier-Schicht-Betrieb gearbeitet

- VON WALTHER ROSENBERGE­R

Tuttlingen Wäre das Ganze nicht so traurig, Peter M. Binder würde wahrschein­lich einen Luftsprung machen. Den Chef des gleichnami­gen Medizintec­hnik-Spezialist­en aus Tuttlingen in Baden-Württember­g kannten bis vor wenigen Tagen vor allem Fachleute: ein paar Wissenscha­ftler, einige Einkäufer von Pharma- und Automobilf­irmen und vielleicht der eine oder andere Beamte im Gesundheit­sministeri­um.

Und jetzt stehen vor seiner Firmenzent­rale am Rande Tuttlingen­s, das sich selbstbewu­sst als „Weltzentru­m der Medizintec­hnik“bezeichnet, Fernsehtea­ms von NBC und France-Info und wollen Details zu Ultra-Kühlung, Produktion­skapazität­en und Kältemitte­ln wissen.

Keine Frage, bei der Binder GmbH, einem sogenannte­n Hidden-Champion, herrscht gerade Ausnahmezu­stand. Der hat viel zu tun mit dem nationalen Notstand, der in Sachen Corona-Pandemie herrscht. In der Bekämpfung des Virus kommt dem Mittelstän­dler, der zuletzt einen Jahresumsa­tz von 74 Millionen Euro gemacht hat, nämlich eine zentrale Bedeutung zu.

Der Grund: Kein anderes Unternehme­n in Deutschlan­d stellt Kühlschrän­ke her, die so leistungsf­ähig sind, dass sie Temperatur­en von bis zu 90 Grad Celsius unter null problemlos halten können. Und das ist genau jener Temperatur­bereich, der benötigt wird, um die neuen Impfstoffe von Pharmafirm­en wie Biontech, Pfizer oder Curevac sicher zu lagern. Und so stehen plötzlich alle Schlange vor Binders Produktion­swerk am Fuße der Schwäbisch­en Alb. Globale Logistikko­nzerne ordern die bis zu 20000 Euro teuren Spezialsch­ränke ebenso wie Labore, Pharmahers­teller, Gesundheit­sbehörden oder die Schweizer Armee, die in der Eidgenosse­nschaft die Verteilung der Impfdosen übernehmen wird.

„Wir produziere­n unter Hochdruck“, sagt der Firmenchef, der den Gerätebaue­r 1983 mit nur fünf Mitarbeite­rn als Garagenfir­ma gegründet hat. Bis Jahresende könne man „eine hohe vierstelli­ge Zahl an Ultra-Tiefkühlsc­hränken“ausliefern. Die Spezialisi­erung von Binder auf wenige Produkte helfe dabei, die Fertigung schnell auf die nötigen Kapazitäte­n hochzufahr­en.

Geschwindi­gkeit wird auch nötig sein, denn die Menge an Impfstoff, die im Kampf gegen das Coronaviru­s gebraucht wird, ist enorm. In den kommenden zwei Jahren werden nach Analysten-Berechnung­en rund zehn Milliarden Impfdosen weltweit transporti­ert und gelagert werden müssen. Allein Deutschlan­d hat sich in einem ersten Schritt rund 57 Millionen Ampullen des Biontech/Pfizer-Wirkstoffs gesichert. Aber damit fängt die Herausford­erung erst an.

Die sensiblen Wirkstoffe werden nach der Zulassung aus den pharmazeut­ischen Produktion­swerken in isolierten Transportb­oxen, die mit Trockeneis ausgestatt­et sind, zu 60 deutschen Impfzentre­n verfrachte­t. Dort müssen die Ampullen eingelager­t werden. Zehn bis 15 UltraTiefk­ühlschränk­e braucht jedes dieser Zentren, schätzt Binder. Etwa 40000 Dosen könnten in jedem der mannshohen Binder-Schränke aufbewahrt werden.

Dass die Corona-Krise die Nachfrage befeuern wird, weiß man bei Binder schon seit dem Frühjahr. Damals erhielt das Familienun­ternehmen erste Anfragen von Logistiker­n und wurde hellhörig. Firmen wie DH klopften an und wollten wissen, ob man mit den SpezialKüh­lschränken die eigenen Luftfracht­drehkreuze und Verteilzen­tren aufrüsten könne. Dass Weltkonzer­ne in der baden-württember­gischen Provinz anrufen, ist indes so ungewöhnli­ch nicht. Neben Binder können mit Panasonic aus Japan oder dem US-Konzern Thermo Fisher allenfalls einige wenige ausländisc­he Konkurrent­en ähnliche Hightech-Schränke liefern.

Man habe seine eigenen Lager daher „früh vollgemach­t“, sagt Binder. Ein Umstand, der dem Unternehme­n, das mittlerwei­le im VierSchich­t-Betrieb arbeitet, jetzt hilft, der Nachfrage Herr zu werden. Dass nun so ein „Hype“ausgelöst werden würde, habe ihn dann aber doch überrascht, wie Binder in einem Fernsehint­erview vor wenigen

Tagen sagte. Unrecht ist ihm die explosions­artig gestiegene Nachfrage natürlich nicht.

Schon weit vor der Corona-Krise hatte Binder das ambitionie­rte Ziel ausgegeben, den Umsatz bis 2025 um gut die Hälfte auf 120 Millionen Euro zu steigern. Die Mitarbeite­rzahl von Binder soll um etwa ein Fünftel auf 500 steigen – ein Plan, der unter den neuen Vorzeichen locker aufgehen könnte. Insbesonde­re, weil die Nachfrage nach den Kühlboxen nach Meinung von Branchenke­nnern noch länger hoch bleiben wird.

Dass Binders Produkte jetzt so gefragt sind, hängt im Übrigen nicht zuletzt damit zusammen, dass das Unternehme­n jährlich bis zu zehn Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklun­g investiert. In normalen Zeiten ist das ein teurer „Spaß“für einen Familienun­ternehmer. In der Krise hilft ihm der dadurch gewonnene technologi­sche Vorsprung nun wohl, das Geschäft seines Lebens zu machen.

Wenn Weltkonzer­ne in der Provinz anfragen

 ?? Foto: Binder ?? Der Tuttlinger Mittelstän­dler Binder stellt Ultra‰Tiefkühlsc­hränke her. Das macht das Unternehme­n in der Corona‰Krise unersetz‰ lich: Jedes Impfzentru­m wird mehrere Geräte zur Kühlung des Impfstoffs benötigen.
Foto: Binder Der Tuttlinger Mittelstän­dler Binder stellt Ultra‰Tiefkühlsc­hränke her. Das macht das Unternehme­n in der Corona‰Krise unersetz‰ lich: Jedes Impfzentru­m wird mehrere Geräte zur Kühlung des Impfstoffs benötigen.

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