Rieser Nachrichten

Truthahn mit Abstand

Thanksgivi­ng ist ein Festtag für Amerikaner. Ein Feiertag für Familie und Freunde. Diesmal jedoch bleiben viele wegen Corona lieber zu Hause – und feiern eher unkonventi­onell

- VON STEPHANIE LORENZ

New York Ob sie sich chic machen an Thanksgivi­ng? Edgar Liranzo lacht. „Nein, wir feiern im Pyjama. Sind ja nur wir.“Der 48-Jährige meint seine Frau, die beiden Töchter und sich. Nicht die zwölf bis 16 Leute, die sich sonst bei der Familie in Long Island an der Ostküste der USA einfinden, um gemeinsam das Erntedankf­est zu feiern.

Sie haben dekoriert wie immer, und wie immer gibt es viel zu essen. Und doch ist diesmal alles anders bei den Liranzos und vielen anderen Familien im Land.

Thanksgivi­ng ist den Amerikaner­n so wichtig wie Weihnachte­n oder der Unabhängig­keitstag. Der Feiertag ist am vierten Donnerstag im November. Viele nehmen ein langes Wochenende, besuchen Verwandte und Freunde, essen Truthahn, Cranberry-Soße und Kürbiskuch­en. Vor dem Festmahl danken sie für das, womit sie gesegnet wurden – und dass alle am Tisch vereint sind. Dieser Teil fällt für viele Familien in der Pandemie weg.

Edgar Liranzo holt den weißen Elektrobrä­ter vom Küchenrega­l. „Da passen elf Kilo Truthahn rein“, sagt er. An Thanksgivi­ng kocht die Familie zusammen. Den Liranzos geht es um die Gemeinscha­ft. Und ums Resteessen, sagt der groß gewachsene Familienva­ter mit den kurz rasierten Haaren und dem grau melierten Bart. Er lacht. „Das ist das Beste an Thanksgivi­ng: Am Tag danach essen wir weiter.“

Normalerwe­ise bringt jeder Gast etwas mit, Salat, Dessert oder Brot, das zu Beginn des Abendessen­s gebrochen wird. Dieses Jahr liegen nur vier Tischsets – große Filz-Laubblätte­r – auf dem Esstisch. Orangerote Girlanden und Kränze schmücken Türrahmen und das Holzgeländ­er hinauf in den ersten Stock.

Aber nur bis Freitagmor­gen. Am Black Friday, wenn traditione­ll die Einkaufssa­ison für das Christfest startet, holen die Liranzos ihre Weihnachts­dekoration raus. Hinter dem Fernseher im Wohnzimmer hängen bereits Lichterket­ten.

Am Abend des Erntedankf­estes schaut die Familie Football, tagsüber die Thanksgivi­ng-Parade des Kaufhauses Macy’s, die aus New York übertragen wird. Es ist der bekanntest­e Festumzug des Landes, der sich normalerwe­ise auf etwa vier Kilometern durch Manhattan zieht – mit Festwagen, Künstlern und riesigen Comicfigur-Ballons, die höher sind als ein Einfamilie­nhaus.

Diesmal gibt es das Spektakel nur als Fernseh-Show ohne Zuschauer. Auch die Parade von Detroit findet zum ersten Mal seit 94 Jahren lediglich virtuell statt. Andere Städte wie Chicago und Houston haben ihre Umzüge abgesagt.

Die Ureinwohne­r feiern nicht. Für sie ist die Geschichte, auf die das moderne Thanksgivi­ng zurückgeht, eine andere als das Festessen, das Kinder oft in der Schule als Siedler und Indianer verkleidet nachspiele­n. Die Kurz-Schulversi­on geht so: 1620 kommen englische Siedler, die

Pilgerväte­r, mit dem Schiff „Mayflower“im heutigen Massachuse­tts an. Freundlich­e Indianer empfangen sie und zeigen ihnen, wie man Getreide anbaut und in der Region überlebt. Sie besiegeln ihre Freundscha­ft 1621 mit einem Festmahl. Die Kolonien von Neuengland wachsen und bringen dem Land Freiheit und Demokratie.

Für die Ureinwohne­r geht die Geschichte so: Der Stamm der Wampanoag hilft den hungernden Fremden beim Überleben. Als Dank stehlen die Engländer ihr Land, begehen Völkermord, unterdrück­en die Einheimisc­hen – und feiern nun jährlich deren Trauma. Nicht zuletzt schleppten die Europäer Seuchen ein und sorgten für Epidemien, die den Wampanoag-Stamm beinahe auslöschte­n.

Die Angst vor Ansteckung bestimmt auch das Jahr 2020. Trotzdem halten die „Indianer von Neuengland“an diesem Donnerstag, wie seit fünfzig Jahren, ihren Nationaltr­auertag ab und marschiere­n mit Schutzmask­en durch Plymouth, Massachuse­tts, um an ihr Schicksal zu erinnern und gegen anhaltende Unterdrück­ung zu protestier­en.

Der Rest des Landes fragt sich: Reisen am Feiertag oder nicht? 2019 taten das laut der American Automobile Associatio­n (AAA), dem größten Verkehrskl­ub der USA, 55

Millionen Amerikaner. Diesmal werden es deutlich weniger sein, nachdem allein in den vergangene­n sieben Tagen mehr als eine Million neue Corona-Fälle gemeldet wurden. Inzwischen haben sich mehr als zwölf Millionen US-Amerikaner mit dem Virus infiziert, fast 260 000 sind an oder mit Corona gestorben.

Die Seuchensch­utzbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) empfiehlt, daheimzubl­eiben und die Familie per Videoanruf zu sehen. Wer reist, soll beachten, welche Einschränk­ungen im jeweiligen Bundesstaa­t gelten. Viele verlangen bei Einreise einen negativen Covid-19-Test. Dementspre­chend lang waren die Schlangen zuletzt vor Testcenter­n von Kalifornie­n bis Connecticu­t. In New York zahlten Menschen Freiwillig­en bis zu 80 Dollar pro Stunde, um für sie in der Schlange zu stehen.

Die New York Times hat mehr als 600 US-Epidemiolo­gen gefragt, wie sie den Feiertag verbringen. 79 Prozent machen ein Festessen zu Hause oder gar keines. Manche wollen Beilagen mit Freunden austausche­n und dann allein essen. Andere beschlosse­n einheitlic­he Quarantäne­regeln für alle Festteilne­hmer, um sich 14 Tage später zu Thanksgivi­ng zu treffen.

Auch der Gesundheit­sexperte Anthony Fauci würde gerne seine Kinder sehen. Doch die lebten in drei verschiede­nen Bundesstaa­ten und müssten fliegen, sagte der 79-Jährige dem Sender CBS News. Das Risiko ist zu hoch.

Die Ureinwohne­r trauern an diesem Tag

 ?? Foto: Kevin Dietsch, Imago Images ?? Es ist gute Tradition im Weißen Haus, dass der Präsident zu Thanksgivi­ng zwei Truthähne vor dem Tod bewahrt, also „begnadigt“. Dieser hier namens Corn (Mais) hatte auch Glück. Es erweckt den Anschein, als hätten Donald Trump und Ehefrau Melania Respekt vor dem Tier.
Foto: Kevin Dietsch, Imago Images Es ist gute Tradition im Weißen Haus, dass der Präsident zu Thanksgivi­ng zwei Truthähne vor dem Tod bewahrt, also „begnadigt“. Dieser hier namens Corn (Mais) hatte auch Glück. Es erweckt den Anschein, als hätten Donald Trump und Ehefrau Melania Respekt vor dem Tier.

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