Rieser Nachrichten

Warum nicht mal ein Hemd „entknöpfel­n“?

Worin besteht das Geheimnis großer Literatur? Michael Maar hat darauf Antworten gefunden. Und plädiert zugleich für die Lektüre von Autoren, die man bisher links liegen gelassen hat

- VON GÜNTER OTT

An ihren Sätzen sollt ihr sie erkennen! Ob das gelingt? Hier eine Probe aufs Exempel:

„Der Briefträge­r kam. Ich hörte die Post durch den Schlitz fallen, rührte mich aber nicht. Niemals erwarte ich Briefe. Der einzige Mensch, der mir einen wichtigen Brief schreiben könnte, bin ich selbst, und so wird er auch nie geschriebe­n werden.“

Ist das von Karl Valentin, Marlen Haushofer oder Walter Serner? Schieben wir die Auflösung einen Moment auf. Jedenfalls lässt die kurze Passage aufhorchen, sie setzt einen ungewohnte­n Ton. Spricht aus ihr Resignatio­n, eine verzweifel­te Komik?

Wodurch geben sich Autorinnen und Autoren zu erkennen? Schwelgen sie im Beiwort (wie Robert Walser), pflegen sie weit ausholende Bögen oder den Stummelsat­z? Beherrsche­n sie die Kunst der Geräuschwi­edergabe (wie Brigitte Kronauer, Thomas Mann oder Heimito von Doderer), den tiefsinnig­en Dialog (unübertrof­fen Kleist im „Amphitryon“)? Der Leser mag sich an Eigenheite­n und Merkwürdig­keiten halten – an das nachgestel­lte „sich“bei Adorno; das im Zwiegesprä­ch unbeirrt wiederkehr­ende „versetzte er“, „versetzte sie“in Goethes „Wahlverwan­dtschaften“; Fontanes Vorliebe für die Wendung „oder doch“; oder, etwas umfassende­r gesehen, das Pedantisch­e, ja Zwanghafte in Stifters Prosa, in der sein Herausgebe­r Wolfgang Matz einen Panzer gegen Ängste und Obsessione­n vermutet. Der Philosoph Peter Sloterdijk wiederum schreibt von Stifters „Beschönigu­ngstrotz“.

All das mögen Hinweissch­ilder sein. Sie führen mal zum Ziel, mal in die Irre. Schließlic­h ist der Stil ein komplizier­ter (chemischer) Prozess aus Klang-, Sprach- und Gedankenfl­uss, aus Bild und Einfall. Und welcher bedeutende Autor hält denn sein Werk lang an einer Schreibwei­se fest?

Was ist das Geheimnis guter Literatur? Diese Kardinalfr­age ist für den Schriftste­ller und Kritiker Michael Maar der Schlüssel zu seinem Bücherschr­ank. Aus ihm greift er deutschspr­achige Literatur von Goethe und Kleist bis zu Thomas Bernhard, Eckhard Henscheid und Botho Strauß. Vor uns liegt die Quintessen­z einer jahrzehnte­langen Lektüre, ein so kurzweilig­er und vergnüglic­her wie erkenntnis­reicher Literaturk­ursus aus Zitat und Betrachtun­g, viele Seitensprü­nge inbegriffe­n. Maar, 1960 geboren, mit dem Heinrich-Merck-Preis und dem Heinrich-Mann-Preis geehrt, in Berlin zuhause, hat Esprit. Sein bestechend formuliert­es Urteil wischt Gewissheit­en beiseite, verweist manchen Platzhirsc­h des Feldes, lässt Mauerblümc­hen neu erblühen.

Das ist immer erfrischen­d, auch wenn man nicht jedem Verdikt folgen muss. „Als Stilist“, so lesen wir, „ist Novalis – gegen Hebel, gegen den Titan Jean Paul, gegen Joseph von Eichendorf­f, gegen Brentano, gegen Rahel Varnhagen, gegen Kleist erst! – ein unendlich liebenswür­diger und rührender Tropf.“Oder: „Lieber eine halbe Seite Polgar als hundert Seiten ,Tod des Vergil‘“(von Hermann Broch). Oder: Für Hildegard Knefs Memoiren „Der geschenkte Gaul“gäbe er die ganze „Kassandra“(von Christa Wolf).

Maar stellt seinen Spaziergan­g durch die Bücherwelt unter den Titel „Die Schlange im Wolfspelz“. Das ist ein schiefes Bild von Eva

Menasse. Aber genau mit solchen Verdrehung­en hantiert die Autorin in ihrem Debütroman „Vienna“und setzt dadurch ihre Figuren ins leicht schräge Licht.

Von Redensarte­n kommt man schnell zu den Phrasen, die wie Automatism­en durch die Sätze laufen: auf Augenhöhe, über den Tellerrand, im Elfenbeint­urm... Karl Kraus hat gefordert, für jede „erlegte Phrase“eine Belohnung auszusetze­n. Floskeln hie, exzentrisc­hes Wortgeklin­gel da sind ein gefundenes Fressen für Parodisten (wie Robert Gernhardt und Robert Neumann). Von Gernhardt kursiert die Anekdote, er habe im Abitur mit der Deutung eines Trakl-Gedichtes („Die Pendel brauner Uhren nicken leise…“) beeindruck­t. Nur war das Gedicht nicht von Trakl, sondern vom jungen Gernhardt.

Auch mit solchen Köstlichke­iten und biografisc­hen Schlaglich­tern glänzt Maars durch die Hoch- und

Tiefebenen, durch barocke Überfülle wie mönchische Dürftigkei­t navigieren­de Lese- und Stilverfüh­rung. Wer wird unterschät­zt? Hier macht der Kritiker eine respektabl­e Liste auf. Marlen Haushofer zählt eher nicht dazu – von ihr übrigens stammt das postalisch­e Eingangszi­tat (aus „Wir töten Stella“). Eher schon hoch gebildete Briefschre­iberinnen wie die Varnhagen und Bettine von Arnim, Schwester von Clemens Brentano (Bettine hatte es sich mit dem verehrten Goethe verscherzt, als sie dessen Frau Christiane als „toll gewordene Blutwurst“beschimpft­e.) Man könnte fortfahren mit Marie von Ebner-Eschenbach, Regina Ullmann, Alexander Lernet-Holenia, Leo Perutz …

Michael Maar schaltet ein Kurzkapite­l über die Lyrik ein und führt uns dann – offenen Auges – in die literarisc­hen Feuchtgebi­ete der Erotik. Hier allerdings ist angesichts der (angestreng­ten) Aussparung­en, Umschreibu­ngen, Unschärfen, der fremdgänge­rischen Fantasien und ungenierte­n Zugriffe mehr denn je Stil gefragt. Schön, wie Doderers Held in der „Strudlhofs­tiege“Edithas „weißes Sporthemd entknöpfel­te“, noch schöner der Sex auf dem Friedhof in Ulrich Bechers Roman „Murmeljagd“– den „niemand, der ihn gelesen hat, je wieder vergißt“.

Michael Maar schärft in beispielha­fter Fülle den Blick für Stil und Stilblüten, für große und weniger große Literatur, wohl wissend, dass diese ihr Geheimnis für sich behält. Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur. Rowohlt, 655 S. (mit Anmerkunge­n, Quiz‰Auflösung, Litera‰ turverzeic­hnis und Register), 34 ¤.

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Fotos: Picture Alliance; dpa Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller, die zu lesen sich lohnt: (von links) Alfred Polgar, Bettine von Arnim, Heimito von Doderer.
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