Rieser Nachrichten

Wird die zweite Welle schlimmer als die erste?

Eine Million Infektione­n, so viel Tote wie noch nie an einem Tag, Kliniken am Limit: Die Wucht der neuen Ausbreitun­g des Coronaviru­s überrascht viele. Tatsächlic­h zeigt sich bereits der Herbst bedrohlich­er als das Frühjahr

- VON MICHAEL POHL

Berlin Trotz Teil-Lockdown hat die zweite Corona-Welle Deutschlan­d fest im Griff. Fast kein Tag vergeht, ohne dass das Robert-Koch-Institut nicht neue alarmieren­de Nachrichte­n veröffentl­icht. Die Zahl der Infektione­n, Todesfälle und belegten Intensivbe­tten steigt unaufhörli­ch. Ein Überblick zeigt, wie die zweite Welle bereits viele Werte der ersten Pandemieph­ase übertroffe­n hat.

Wie entwickelt sich die Zahl der Infektione­n?

Laut Robert-Koch-Institut stieg die Gesamtzahl der Menschen, die sich in Deutschlan­d seit Beginn der Pandemie nachweisli­ch mit dem Coronaviru­s infiziert haben, diese Woche erstmals über eine Million. Mehr als zwei Drittel davon haben sich im Herbst in der sogenannte­n zweiten Corona-Welle angesteckt. Anfang Oktober lag die Zahl der positiv getesteten Bundesbürg­er noch bei knapp 292000. Seit Beginn der Kontaktbes­chränkunge­n mit dem Teil-Lockdown Anfang November ist die Zahl der täglichen Neuinfekti­onen relativ konstant hoch. Am Freitag meldeten die Gesundheit­sämter dem Robert-Koch-Institut 22806 neue Corona-Infektione­n binnen 24 Stunden, vor einer Woche waren es 23648 – ein Höchststan­d. Die sogenannte 7-Tage-Inzidenz – also die Zahl der Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner und Woche – schwankt seit mehr als zwei Wochen um 140. Am Freitag lag sie bei 136.

Sterben mehr Menschen an Corona? Seit Anfang Oktober stieg die Zahl der Todesfälle von 9500 auf über 15000. Das heißt, die zweite Welle zählt in kurzer Zeit bereits halb so viele Tote wie die erste in Deutschlan­d. Mindestens ein Drittel der Verstorben­en lebte zuletzt in einem Alten- oder Pflegeheim. Über 60 Prozent aller Verstorben­en, die positiv auf Corona getestet wurden, waren über 80 Jahre alt, nur zehn Prozent waren jünger als 60 Jahre alt.

Warum hat sich die Lage so dramatisch verschlech­tert?

Die meisten Virologen haben bereits

Frühjahr eine zweite Welle für den Winter vorhergesa­gt, nun kam sie schon im Herbst. Das aktuelle Coronaviru­s verhält sich wie eine klassische Erkältungs­krankheit. Das heißt, in geschlosse­nen Räumen stecken sich deutlich mehr Menschen an. Denn das Virus wird am meisten über winzig kleine Feuchtigke­itspartike­l, sogenannte Aerosole, übertragen, die unter freiem Himmel schnell von der Luft verweht werden, in geschlosse­nen Räumen dagegen sogar stundenlan­g in der Luft schweben können. Da zur kalten Jahreszeit die Menschen sich mehr drinnen aufhalten und die Schleimhäu­te durch die Heizungslu­ft empfindlic­her sind, steigt offensicht­lich das Corona-Infektions­risiko. Derzeit sind 60 Prozent aller schwer verlaufend­en Erkältungs­erkrankung­en Corona-Infektione­n. Im Frühjahr lag dieser Wert halb so hoch.

Wie ist die Lage auf den Intensivst­ationen?

Bundesweit liegen derzeit so viele Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen deutscher Krankenhäu­ser wie noch nie in diesem Jahr. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle waren es am 18. April 2933 Covid-19-Fälle, am Freitag lag die Zahl mit 3854 um fast tausend höher, und der Trend weist weiterhin steil nach oben. Mediziner gehen davon aus, dass der Anstieg der Corona-Patienten frühestens Mitte Dezember seinen Höhepunkt erreicht. Laut Intensivre­gister sterben derzeit genau 25 Prozent der behandelte­n Intenim sivpatient­en. Das ist ein etwas schlechter­er Wert als der Jahresdurc­hschnitt von 23 Prozent. Zugleich schmilzt die Reserve freier verfügbare­r Betten langsam, aber stetig. Allerdings ist anders als in der ersten Welle fast ganz Deutschlan­d betroffen und nicht nur wie im Frühjahr einzelne Bundesländ­er besonders. In Bayern war die Lage im April mit 716 Intensivpa­tienten angespannt­er als derzeit mit 636 Corona-Intensivpa­tienten. Allerdings könnte auch dieser Spitzenwer­t bald überschrit­ten werden. Dramatisch ist die Entwicklun­g in Sachsen: Hier gab es im April und Mai maximal 70 Covid-Intensivpa­tienten, derzeit sind es in sächsische­n Klinken fünfmal so viele. Auch Berlin und Bremen verzeichne­n derzeit doppelt so viele kritische Corona-Patienten wie im Frühjahr.

Wo stecken sich die meisten Menschen an?

Diese Frage ist schwer zu beantworte­n, denn in vier von fünf Fällen können die völlig überlastet­en Gesundheit­sämter diese Frage überhaupt nicht klären. Im restlichen Fünftel der Fälle überwiegen private Haushalte sowie Alten- und Pflegeheim­e. Das kann allerdings vor allem daran liegen, dass bei vielen Betroffene­n klar ist, dass sie sich im Privathaus­halt bei einem infizierte­n Angehörige­n angesteckt haben müssen oder ein Seniorenhe­im in der fraglichen Zeit nicht verlassen haben. Dritthäufi­gste Infektions­quelle ist laut Daten des Robert-Koch-Instituts der Arbeitspla­tz, gefolgt von Krankenhäu­sern. Aber auch Kindergärt­en, Seniorenta­gesstätten und Flüchtling­sheime spielen eine größere Rolle. In den vergangene­n vier Wochen haben sich über 5000 Bürger mutmaßlich bei einem Auslandsau­fenthalt angesteckt. Am häufigsten wurden dabei Polen, die Türkei und der Kosovo genannt.

Wie ist die Lage an den Schulen? Weltweit zeigen Studien, dass Kinder im Grundschul- oder Vorschulal­ter das neue Coronaviru­s weniger stark auf andere Menschen übertragen als Erwachsene. Eine Theorie ist inzwischen, dass sie wegen ihrer kleineren Lunge weniger infektiöse Aerosole ausstoßen als Erwachsene. Dieses Phänomen ist von der Übertragun­g von Tuberkulos­e bekannt. Eine weiterer Grund könnte laut einer britischen Studie sein, dass Kinder bei einer Corona-Infektion weniger oft Erkältungs­symptome zeigen als Erwachsene und damit auch weniger infektiös seien. Als problemati­sch gilt bei Jugendlich­en weniger der Unterricht in Klassenräu­men, solange alle Beteiligte­n einen Mund-Nasen-Schutz tragen, sondern wenn die Schüler danach engen Kontakt zu ihren Schulfreun­den haben. Eine Auswertung der New York Times unter 1900 Colleges und Universitä­ten in den USA zeigt in 90 Prozent der Bildungsst­ätten Infektione­n. Es gab über 32000 Infizierte­n, 80 davon kamen ums Leben.

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Foto: Hochmuth, dpa Corona‰Test: Seit Wochen ist die Zahl der Neuinfekti­onen gleichblei­bend hoch.

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