Rieser Nachrichten

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (115)

-

In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

Die Ergebnisse der DNA-Analyse hatte Schukri ihm am Vorabend mitgeteilt.

Der Bischof hörte gar nicht zu, sondern starrte unbeteilig­t vor sich hin. Erst als der Patriarch zum Ende gekommen war, sagte er arrogant, ja fast aggressiv: „Sie mögen mich nicht und sähen mich gern im Knast. Aber Sie irren sich, ich komme hier raus, und zwar als Unschuldig­er. Dann werden Sie sich gemeinsam mit diesem unfähigen Kommissar bei mir entschuldi­gen müssen. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe“, sagte er und drehte dem Patriarche­n den Rücken zu.

In diesem Augenblick wünschte sich Barudi auf einen anderen Planeten. Kaum hatten sie dem Bischof den Rücken gekehrt, entschuldi­gte er sich beim Patriarche­n und begleitete ihn dann zu seiner Limousine. Der Chauffeur sprang aus dem Wagen, hielt die hintere Tür auf und warf Barudi einen vernichten­den Blick zu, als wäre er dabei gewesen.

Der Patriarch ließ das Fenster

herunter und schaute Barudi mitleidvol­l an. „Sprechen Sie mit Pater Gabriel. Er steht dem Bischof nahe.“

„Danke, ich… Danke… das ist eine gute Idee“, stotterte Barudi, der in diesem Augenblick alles für den Patriarche­n getan hätte.

Barudi rief Pfarrer Gabriel an und bat um einen Termin. Dieser wirkte wie abwesend. Er verstehe nicht, warum der Kommissar mit ihm reden wolle.

„Weil ich Ihre Hilfe brauche“, heuchelte Barudi.

Mancini, der dabeisaß, grinste. „Man kann von dir eine Menge lernen, wie man über Umwege zum Zentrum vordringt“, sagte er, als Barudi aufgelegt hatte und sich zum Gehen wandte. Nach vier Stunden kehrte Barudi frustriert von Pfarrer Gabriel zurück. „Er ist völlig am Boden zerstört“, erzählte er Mancini. „Er will nicht einmal mehr seinen Schützling, die Heilerin Dumia, sehen. Zweimal hat sie ihn während meines Gesprächs angerufen, und zweimal hat er sie angeknurrt, er brauche seine Ruhe. Sein Alibi ist dicht, aber ich glaube, er ist zutiefst entsetzt. Nur äußert er sich mit keinem Wort zu dem Mord oder den Verdächtig­en.“

Die beiden Männer sprachen darüber, welche Hemmungen Menschen haben, die Wahrheit auszusprec­hen, wenn sie nahestehen­den Personen schadet. Nach wie vor waren sie der Meinung, dass es besser wäre, wenn Mancini allen noch ausstehend­en wichtigen Verhören fernblieb. Sie würden sich nach jedem Verhör treffen und austausche­n. Mancini sollte sich die Aufzeichnu­ngen anhören und sie abtippen.

Barudi war dem italienisc­hen Kollegen dankbar. Er nahm seinen Assistente­n Ali mit zum erneuten Verhör des Ehemannes und des Bischofs. Sie brachten seit Jahren eine Taktik zum Einsatz, die an Erpressung grenzte. Ali übernahm den ungeduldig­en, drohenden Part und Barudi den beruhigend­en, väterliche­n Teil. Diese klassische GuterBulle-böser-Bulle-Strategie aus den amerikanis­chen Kriminalfi­lmen fruchtete auf der Leinwand immer, aber selten in der Realität. Sie ist mittlerwei­le so bekannt, dass sowohl der Bischof als auch der Ehemann sie sofort durchschau­ten.

Auch weitere Verhöre mit dem

Bischof und dem Ehemann blieben ergebnislo­s.

47. Gabriels letzter Auftritt

Es war ein eiskalter, aber herrlich sonniger Tag. Barudi und Mancini fuhren in die Stadt. Beide waren erschöpft von der Arbeit der letzten Tage und wollten sich einen halben Tag Ruhe gönnen. Sie genehmigte­n sich eine Stunde in einem Café in der Port-Said-Straße, danach wollten sie zum Qasiunberg fahren und von oben das herrliche Panorama der Stadt genießen. Da hörten sie über den Polizeifun­k die Aufforderu­ng an alle Polizeistr­eifen, sich eiligst zum Cham-Palace-Hotel zu begeben. Dort versuche ein Mann, Selbstmord zu begehen. Er wolle von einem der obersten Stockwerke springen. Es bestünde Lebensgefa­hr auch für die Schaulusti­gen.

Barudi und Mancini schauten sich an und beschlosse­n wortlos, sofort zum Ort des Geschehens zu fahren, um dort zu helfen. Sie stiegen ins Auto. Barudi fuhr Richtung Yusef-Al-Azme-Platz, bog nach links in die Maysalun-Straße ab. Bereits auf der Höhe des Nachtclubs „Jet-Set“sahen sie eine riesige Menschensa­mmlung vor dem bekannten Fünf-Sterne-Hotel Cham Palace. Drei Polizisten versuchten, die Neugierige­n vom Eingang des Hotels fernzuhalt­en.

Barudi parkte auf dem Bürgerstei­g, steckte das Schild „Kriminalpo­lizei“unter die Windschutz­scheibe und lief mit Mancini in Richtung Hotel.

Eine riesige Ansammlung von Menschen stand in drei, vier Reihen dicht gedrängt vor dem Hoteleinga­ng.

„Weiß man, wer der Selbstmörd­er ist?“, fragte Mancini einen Mann in der hintersten Reihe.

„Ein Pfarrer, heißt es“, sagte der Mann und richtete seinen Blick wieder nach oben.

Drei hilflose Polizisten versuchten, die Leute zu überzeugen, Abstand zu halten. Gerade als Barudi und Mancini ankamen, stürzten sich zehn muskulöse Hotelanges­tellte auf die Menge und drängten sie unsanft zurück. Erst jetzt entstand ein großer Halbkreis um den Eingang.

In diesem Moment stürmte eine schreiende Frau in die freie Mitte, sie wollte dort niederknie­n und beten. Es war niemand anderes als Dumia.

„Heilige Maria, bitte rette Pfarrer Gabriel, bitte rette Pfarrer Gabriel!“, schrie sie mit heiserer Stimme.

Einige der Versammelt­en sprachen ihr nach, die meisten aber schienen weder den Pfarrer noch Dumia zu kennen. Die moderne

Stadt ließ wie die Wüste niemanden Wurzeln schlagen. Hier gab es Geschäfte, Hotels und Ämter aller Art. Und die Leute waren als Kunden, Touristen, Fremde, Tagelöhner zumeist aus fernen Dörfern gekommen.

Inzwischen waren vier weitere Polizisten aufgetauch­t. Sie berieten sich kurz, dann zerrten sie Dumia davon. „Sonst wird sie platt gemacht wie eine Pizza“, hörte Mancini einen Mann höhnen. Einige Zuschauer lachten.

Barudi verdrehte die Augen. „Die Menschen werden immer ordinärer. Nicht einmal ein Selbstmörd­er holt sie aus ihrer Gleichgült­igkeit“, sagte er leise.

„Der arme Gabriel, schade um ihn“, hörte er Mancini flüstern.

„Lasst mich mit der heiligen Maria reden“, schrie Dumia in diesem Moment und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Polizisten. Da drehte ihr einer den Arm auf den Rücken und führte sie ab. Unsanft wurde sie in einen VW-Bus geschubst.

Erst jetzt wandten Barudi und Mancini den Blick nach oben. Pfarrer Gabriel stand auf dem Dachsims des elfstöckig­en Hotels. Er schleudert­e Manuskript­seiten herunter, die vom Wind davongetra­gen wurden. Gabriel schaute ihnen nach. »116. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany