„Die Leute haben Angst“
Wer krank ist, geht zum Hausarzt – auch mit Corona. Der Löwenanteil an Tests läuft mittlerweile in den Praxen. Zwei Hausärztinnen erzählen, was das für ihre Arbeit bedeutet – und was das mit den Patienten macht
Nördlingen/Rain Dr. Katharina Lindel nimmt sich viel Zeit für dieses Gespräch. Dank Videoschalte bleibt das Gegenüber nicht nur eine Stimme, sondern wird sehr persönlich. In dieser Form der Sprechstunde hat die Hausärztin aus Rain schon viele ihrer Patienten getroffen, beraten, ihre Sorgen gehört. „Eigentlich geht es schon lange nicht mehr nur um das Virus selbst“, sagt die 37-Jährige. „Es geht um die Angst vor dem Virus und um die Schicksale, die von Corona ausgelöst werden.“
Seit Beginn der zweiten Welle ist in der Praxis von Dr. Lindel in der Hauptstraße in Rain nichts mehr wie vorher. Täglich kommen Patienten, um sich auf Corona testen zu lassen. Anfangs war diese Aufgabe klar beim Gesundheitsamt angesiedelt. Mittlerweile wird angesichts steigender Zahlen und nicht mehr beherrschbarer Kontaktverfolgung von der Behörde sehr gerne in Anspruch genommen, dass die Hausärzte das übernehmen. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern hat errechnet, dass aktuell etwa 80 Prozent der Covid-19-Patienten ambulant über den Arzt ihres Vertrauens versorgt werden. „Schon allein, weil die Bürger im Gesundheitsamt niemanden erreichen, fällt die Aufgabe den Hausärzten zu“, sagt Dr. Lin
Sie betont, dass es für sie eine Selbstverständlichkeit sei, ihre Patienten zu beraten, zu testen, ihnen das Ergebnis mitzuteilen und über Quarantäne und Kontaktlisten aufzuklären. „Aber es ist brutal viel“, sagt sie offen.
Pro Tag schätzt sie allein in ihrer Praxis in Rain die Zahl der Abstriche auf etwa fünf bis 20. Um den Andrang, die telefonischen Anfragen und den damit einhergehenden bürokratischen Aufwand zu bewältigen, hat sie eine zusätzliche Vollzeitkraft eingestellt. Denn je nachdem, aus welchem Anlass ein Patient einen Test braucht – beispielsweise als Verdachtsfall mit Symptomen, Kontaktperson, gewarnt über die Corona-App oder weil er es von sich aus wünscht – gibt es unterschiedliche Kostenträger. Die Laborergebnisse müssen zudem täglich und – bei einem positiven Fall zudem mit einem händisch ausgefüllten Formular – per Fax an das Gesundheitsamt übermittelt werden. Das nimmt meist erst ein paar Tage später mit dem Betroffenen Kontakt auf. „Aber die Leute haben ja Fragen, und die stellen diese dann eben ihrem Hausarzt“, sagt Lindel.
Sie hat zwei weitere Räume angemietet, damit die „Schnupfen-Patienten“– wie sie alle mit Erkältungssymptomen zusammenfasst – getrennt von den anderen Patienten versorgt werden können. „Ich werfe mich dann in meine Schutzkleidung und gehe in meine kleine CoronaStation“, sagt sie scherzend. Ob sich das am Ende für sie alles rechnet oder zumindest keine Mehrkosten verursacht, weiß sie noch gar nicht. Überhaupt sei das Thema Kostenerstattung von Tests und Beratungszeit auch ein leidiges Thema. Am Ende sei auch ein Hausarzt ein selbstständiger Unternehmer.
Dr. Claudia Völkl hat im Hof des Hauses, in dem sich in Nördlingen ihre Hausarztpraxis befindet, einen Bürocontainer aufgestellt. An dessen Fenster nimmt sie bei den Patienten die Proben aus dem Rachen – täglich bis zu 20 Abstriche, schätzt sie. „Wer krank ist, geht zu seinem Arzt und nicht in ein anonymes Testzentrum“, ist die Erfahrung der Hausärztin, die auch als Delegierte im Hausärzteverband Donau-Ries für die Ausbildung junger Kollegen zuständig ist.
Die Zahl der am Ende wirklich Positiven sei zwar ganz niedrig, doch auch sie beschreibt den ganzen kommunikativen wie bürokratischen Aufwand in ihrer Praxis als immens. An Covid-19 erkrankte Padel. tienten brauchen für längere Zeit den ärztlichen Beistand. „Viele haben drei oder vier Wochen Symptome: Kopfweh, Schwindel, Husten, Fieber. Sie fühlen sich schlapp oder haben auch den belastenden Verlust des Geschmackssinns über lange Zeit“, erzählt sie. Den wenigsten aber geht es so schlecht, dass sie ins Krankenhaus müssen. „Und das ist ja auch wirklich das Gute am deutschen System der Hausärzte, dass wir dezentral so viel abfangen.“In Ländern wie Italien sei auch gerade das das Problem, dass jeder, der irgendwie ein wenig krank ist, in der Krankenhausambulanz aufschlägt. Dr. Völkl berichtet von enormem Gesprächsbedarf ihrer Patienten: „Corona drückt die Angst in den Vordergrund“, sagt sie. „Nicht nur bei denen, die es haben. Viele haben einfach sehr große Sorgen, dass sie es kriegen könnten oder dass sie andere anstecken.“
Das kann Dr. Katharina Lindel bestätigen. Als Hausärztin erlebt sie viele Schicksale, die Corona auslöst. Betagte Patientinnen im Seniorenheim, die körperlich gesund sind, aber einfach vereinsamen. „Die Töchter haben Angst, ihre Mutter anzustecken und theoretisch für ihren Tod verantwortlich zu sein“, erzählt sie. Oder die Oma, die ihr traurig erzählt, dass sie ihre Enkel nicht mehr umarmen kann. Der Vater, der Angst um seinen Arbeitsplatz hat, der die Familie ernährt. Mamas, die die Organisation um Schule, Kita, Quarantäne massiv stresst. Die einen würden depressiv, zeigen Schlafstörungen, die anderen eher aggressiv. Am Ende sitzen sie bei Dr. Katharina Lindel in der Sprechstunde.
„Ich versuche den Leuten Mut zu machen, dass wir bisher in Deutschland die Pandemie gut bewältigt haben und unser Gesundheitssystem alle auffangen kann“, sagt die 37-Jährige.
Sie ist niemand, der das Virus verharmlosen will, aber sie appelliert an die Menschen mit gesundem Menschenverstand, Entscheidungen für sich selbst und seine Liebsten zu treffen, miteinander zu reden. Vielleicht sei es ja der Oma wichtiger, das Enkelkind zu umarmen, als jede Form von Risiko auszuschließen. „Wir sind Menschen, wir brauchen liebevolle Kontakte.“Und dann verrät sie, dass sie in ihren Gesprächen mit den Patienten sehr oft gerne die folgenden Zeilen eines Liedes zitiert. „Und wer sein Leben lang, immer Angst vor dem Sterben hat, fängt nie zu leben an.“
Zwischen fünf und 20 Abstriche pro Tag
Patienten haben enormen Gesprächsbedarf