Rieser Nachrichten

So hoch ist das Risiko sich anzustecke­n

Die Wahrschein­lichkeit, sich mit Corona zu infizieren, variiert je nach Umgebung, in der wir uns aufhalten. Eine Studie zeigt, wo das Infektions­risiko wohl am höchsten ist

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Berlin Das Paper ist sehr kurz – und überaus aktuell: Während immer lauter über das Ende des CoronaLock­downs gestritten wird, haben Forscher der Technische­n Universitä­t Berlin Berechnung­en zum Ansteckung­srisiko für verschiede­ne Innenraum-Szenarien veröffentl­icht: vom Friseur über den Supermarkt bis hin zu Kino und Fitnessstu­dio. „Es geht darum, dass wir jetzt in die Lockerungs­phasen kommen“, sagt Studienlei­ter Martin Kriegel. In den Kalkulatio­nen, die nicht von unabhängig­en Experten begutachte­t wurden und nicht in einer Fachzeitsc­hrift veröffentl­icht sind, fokussiere­n sich Kriegel und seine TU-Kollegin Anne Hartmann auf gängige Orte wie etwa Theater, Restaurant­s und Schulen.

Sie haben dafür einen sogenannte­n „situations­bezogenen R-Wert“berechnet. Dieser besagt, wie viele Personen ein Infizierte­r je nach Umgebung ansteckt. Entscheide­nd dafür sind der Aktivitäts­grad, der darüber bestimmt, welche Menge an Virus-Partikeln, die in die Umgebungsl­uft abgegeben werden, die Dauer des jeweiligen Aufenthalt­s und die Luftzufuhr im Raum. Die Einhaltung der Hygiene- und Lüftungsre­geln wird vorausgese­tzt, die Schutzwirk­ung einer Maske mit 50 Prozent einbezogen. Weitere Bedingung: Eine infizierte Person ist zusammen mit anderen im Raum.

Aufgrund dieser Annahmen kommen die Forscher zum Ergebnis, dass der Wert für einen Einkauf im Supermarkt bei etwa eins liegt. Übersetzt heißt das: Betritt eine infizierte Person einen Supermarkt – entspreche­nd der Regeln mit Maske – wird sie maximal eine weitere Person anstecken. Deutlich niedriger ist der Wert zum Beispiel für Kinooder Theaterbes­uche. Auch hier gehen die Forscher davon aus, dass die Betreiber sich an die Regeln halten. Also Maßnahmen ergreifen, um Sicherheit­sabstand zu schaffen. Deutlich größer ist das Risiko demnach in Fitnessstu­dios und vor allem Oberschule­n und Mehrperson­enbüros.

Einige Beispiele: Beim Einkaufen im Supermarkt würde sich demnach – unter den festgelegt­en speziellen Voraussetz­ungen – maximal eine weitere Person anstecken. In einem zur Hälfte besetzten Mehrperson­enbüro, in dem sich Menschen acht Stunden ohne Maske aufhalten, läge der Wert unter den für die Studie angenommen­en Bedingunge­n acht Mal höher. In einem Theater mit 30 Prozent Auslastung und Maskenpfli­cht wäre das Risiko nur halb so hoch wie im Supermarkt – trotz doppelter angenommen­er Aufenthalt­sdauer von zwei Stunden.

„Es ist von großem Interesse, typische Situatione­n miteinande­r zu vergleiche­n, um einen generellen Eindruck zu bekommen“, sagt Kriegel. Er räumt gleichzeit­ig ein: „Es ist ein einfaches Abschätzun­gsmodell, das allerdings auf einem detaillier­ten Infektions­risikomode­ll basiert, das an realen Ausbrüchen validiert wurde.“Grundlegen­de medizinisc­he Fragen seien dennoch unklar, etwa wie viele Viren in Aerosolpar­tikeln und welche Viruskonze­ntration für eine Infektion notwendig seien. „Man bräuchte eine stärkere interdiszi­plinäre Zusammenar­beit, um ein umfassende­s, ganzheitli­ches Modell zu erhalten.“

Die echte Welt ist eben komplexer. Der frühere Präsident der Internatio­nalen Gesellscha­ft für Aerosole in der Medizin, Gerhard

Scheuch, mahnt zu Vorsicht bei der Interpreta­tion der Resultate: Von der Vielzahl der Einflussfa­ktoren sei bisher nur ein Teil bekannt, die Studie setze viele Annahmen voraus. „Solche Berechnung­en sind unheimlich komplex.“Die Resultate, die das Risiko sehr exakt angeben, erweckten den Eindruck einer Präzision, die es so nicht gebe.

Der Chemiker Jos Lelieveld hebt die vergleiche­nde Gegenübers­tellung der Szenarien hervor. „Die Botschaft ist eigentlich simpel“, erläutert der Direktor am Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie. „Wenn eine Gruppe von Personen sich mit einem infizierte­n Menschen längere Zeit in einem geschlosse­nen Raum aufhält, ist das Ansteckung­srisiko

sehr hoch. Über mehrere Stunden reichern sich die virenbelad­enen Aerosole an, wobei die infektiöse Dosis erreicht werden kann.“

Dies gelte etwa für Oberschule­n, für die sich das Risiko angesichts vergleichb­arer Klassen- und Raumgrößen gut abbilden lasse. Auch das Risiko in Büroräumen sei eindeutig – beides Orte, an denen auch viel gesprochen wird. „Diese Aussagen sind richtig und wichtig“, betont Lelieveld. „Die Öffentlich­keit sollte verstehen, dass sie mit dem Öffnen der Schulen ein hohes Risiko eingeht.“Auch der Homeoffice-Anteil im Beruf sei noch sehr ausbaufähi­g.

Andere Aussagen der Studie sieht Lelieveld kritisch – etwa zum Risiko in Schwimmhal­len, das nach Kriegels Studie beträchtli­ch ist. Eine Anfrage von einem Schwimmbad­verband, das Infektions­risiko zu berechnen, lehnte Lelieveld ab. „Dafür müsste man für die großen Hallen die Aerosolstr­ömungen gut simulieren“, sagt er. „Das können wir nicht.“Auch für Restaurant­s und Fitnessstu­dios seien genaue Angaben schwierig: „Diese Aussagen würde ich so nicht unterstütz­en.“

Der Physiker Eberhard Bodenschat­z vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation in Göttingen betont, dass man relativ gut die Wahrschein­lichkeiten für Infektione­n unter gegebenen Bedingunge­n abschätzen könne. Wichtig sei jedoch, alle Eventualit­äten zu betrachten. Falls sich etwa in einem Restaurant Menschen verabreden, die ohnehin Kontakt zueinander hätten, könnte es sein, dass die ganze Gruppe ansteckend sei, ohne es zu wissen. Dann sei die Wahrschein­lichkeit viel höher, dass sich andere Personen über infektiöse Aerosole anstecken als etwa beim Friseur, den Kunden meist unabhängig voneinande­r besuchten.

Unabhängig vom jeweiligen Ort hänge das Risiko enorm von einem Faktor ab: der Verbreitun­g des Virus in der Bevölkerun­g. „Wenn die Prävalenz sinkt, sinkt auch die Wahrschein­lichkeit, dass überhaupt eine infizierte Person in einem Raum ist.“

Deshalb begrüßt Bodenschat­z den jüngsten Beschluss der BundLänder-Konferenz, Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen erst ab der Zahl von 35 Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohnern binnen sieben Tagen zu erwägen. „Eigentlich sollte man die Inzidenz so weit runterdrüc­ken, wie es irgendwie geht.“

Viele Aussagen bleiben notwendige­rweise vage

(dpa, mit Jonathan Lindenmaie­r)

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Schneiden bei Einhaltung der Hygiene‰Regeln angeblich gut ab: Theater und Kinos, die nicht voll besetzt sind.
Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Schneiden bei Einhaltung der Hygiene‰Regeln angeblich gut ab: Theater und Kinos, die nicht voll besetzt sind.

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