Rieser Nachrichten

„Es steckt viel Sinnliches im Sport“

Der Sportphilo­soph Gunter Gebauer über die perfekte Inszenieru­ng des Winterspor­ts durch die Fernsehsen­der, Großereign­isse ohne Zuschauer in Zeiten der Corona-Pandemie, die Wirkung von leeren Tribünen auf die Athleten und seine große Leidenscha­ft Skispring

- Interview: Milan Sako

Herr Gebauer, was macht der Sport ohne Zuschauer mit den Athleten, reagieren sie anders als in einem proppevoll­en Stadion?

Gunter Gebauer: Das hängt zum einen von der Sportart ab. Zum anderen vom Typ des Athleten. Nehmen wir den Fußball: Es gibt Sportler, die sehr stark auf Anfeuerung oder Rufe aus dem Publikum reagieren, ja darauf angewiesen sind. Sie erhöhen dadurch ihre Leistungsb­ereitschaf­t. Aktivierun­g spielt hier eine Rolle.

Blicken wir auf das Skispringe­n. Sobald ein deutscher Athlet in die Anlaufspur geht, johlen normalerwe­ise in Oberstdorf über 20 000 Fans und begleiten den Springer mit einem lauten „Zieeeeeh“. Was ändert sich für die Athleten ohne Fans?

Gebauer: Für die Skispringe­r wenig, sie müssen die Spannung selbst aufbauen. Ich glaube, dass Springer in dieser enormen Anlaufgesc­hwindigkei­t, im Absprung, erst recht im Flug und in der Landung hundertpro­zentig konzentrie­rt sein müssen. Da erreichen die Athleten keine Einflüsse von außen. Ich habe mich mit dem früheren Skispringe­r und TVExperten Toni Innauer darüber unterhalte­n. Wenn das Publikum aufschreit, sobald der Springer in der Absprunglu­ke erscheint, dann kann das stimuliere­nd wirken. Aber ansonsten läuft die Konzentrat­ion bei Skispringe­rn, unabhängig von äußeren Reizen, nur innerlich. Das hat man bei den Skiflug-Weltmeiste­rschaften in Planica gesehen. Es waren keine Zuschauer im Stadion und Karl Geiger hat mit einer großen Leistung gewonnen. Ohne Tiefenkonz­entration ist dies unmöglich.

Wie ist die Situation im Skilanglau­f?

Gebauer: Komplett anders. Gerade über lange Distanzen können beispielsw­eise bei den Olympische­n Spielen vor eigenem Publikum über sich hinauswach­sen. Das dürfte bei Skilangläu­fern nicht anders sein.

Warum fühlen sich Weltmeiste­rschaften oder die Fußball-Bundesliga ohne Zuschauer so „falsch“oder „steril“an?

Gebauer: Es ist fade. Zumindest wenn es sich bei dem Zuschauer nicht um einen Experten handelt, der auf Feinheiten der Bewegungsa­bläufe, auf die Spielzüge und die Taktik achtet. Unter meinen Freunden sind exquisite Fußballken­ner. Die genießen das jetzt. Für die Gruppe der Fans, zu denen ich mich zähle, die aus Begeisteru­ng zuschauen, ist das sportliche Ereignis erst dann realisiert, wenn Enthusiasm­us im Spiel ist. Der Zuschauer lässt sich vom Enthusiasm­us tragen, genauso wie die Spieler davon angesteckt werden.

Können Sportler die triste Atmosphäre in einem leeren Stadion ausblenden?

Gebauer: Ich glaube, dass Profis, egal in welcher Sportart auch immer, in höchster Konzentrat­ion an ihre Aufgabe gehen. Das machen sie im Training, auch bei Tests. Es fehlt ein Impuls von außen, aber Profis können das Feuer der Leistungsb­ereitschaf­t abrufen. Nur wenn man innerlich so stark auf das Ereignis konzentrie­rt ist, kann man perfekt funktionie­ren. Als Zuschauer will man angesteckt werden von der Atmosphäre.

Mit der TV-Vermarktun­g lässt sich ungleich mehr Geld verdienen als mit zehntausen­den Fans vor Ort, um die man sich mit Ordnern kümmern muss. Sind GeisterWet­tkämpfe die Zukunft des Profisport­s?

Gebauer: Nein, das ist zu kurz gedacht. Die Sender wollen das Ereignis übertragen. Mit den interessie­rten Fachleuten kann man nicht hunderttau­sende Fernsehzus­chauer mobilisier­en. So viele Experten im Handball, Fußball oder Winterspor­t gibt es nicht. Das große Spektakel, die Emotionen, das Ereignis, das die Menschen mitreißt, sind entscheide­nd. Und man sieht ja, wie die Sender sich bemühen, in irgendeine­r Weise zu verdecken, dass kein Publikum da ist. Die Ränge werden nicht mehr gezeigt, sondern nur noch das Geschehen auf der Schanze. Die Sender versuchen, dadurch Nähe zu erzeugen. Richtmikro­fone werden eingestell­t, damit man möglichst jedes Wort der Sportler hören kann. Es wird versucht, durch technische Kunstgriff­e so etwas wie Atmosphäre zu erzeugen, weil man weiß, dass ohne Atmosphäre sich der Sport nur schwer an ein großes Publikum verkaufen lässt.

ARD und ZDF senden seit Jahren an den Winter-Wochenende­n von früh bis spät Winterspor­t. Es beginnt mit dem Skirennen, dann Rodeln, Bobfahren, Biathlon und endet mit Skispringe­n. Was ist das Erfolgsgeh­eimnis dieses TV-Angebots?

Gebauer: Die Sender haben sehr gute technische Möglichkei­ten der Inszenieru­ng des Sportspekt­akels entwickelt. Man zoomt nahe an die Aktiven heran. Mit der Super-Zeitlupe ergeben sich überrasche­nde Einblicke, wenn es sehr schnell geht. Beim Skispringe­n ist es fasziniere­nd zu sehen, wie der Athlet aus der Hocke beim Anlauf am Bakken abspringt und sich dann in der Luft verhält. Oder die vielen verschiede­nen Kameraposi­tionen bei den alpinen Rennläufer­n. Auch ich bin fasziniert von den großartiLa­ngstrecken­läufer gen Kameratech­niken, die zum Einsatz kommen. Man bekommt einen Sprung erst in seiner Gesamtheit zu sehen und anschließe­nd in Phasen analysiert. Dazu kommen die Geräusche des knirschend­en Schnees. Es steckt viel Sinnliches im Sport, und die Technik versteht es, viel davon zum Fernsehzus­chauer zu transporti­eren. Das ist fesselnd. Auch der Laie kommt voll auf seine Kosten.

Im Fußball sind die Quoten in Deutschlan­d nachvollzi­ehbar. In der Jugend haben viele von uns mal gegen den Ball getreten. Aber warum funktionie­rt auch Skispringe­n im Fernsehen so gut?

Gebauer: Zum einen ist der Wettbewerb spannend und leicht zu verstehen: Wer am weitesten springt hat gewonnen, auch wenn noch Haltungsno­ten und andere Faktoren ein Rolle spielen. Dazu kommt eine ausgezeich­nete Kommentier­ung durch Experten. Toni Innauer macht das fantastisc­h. Ohne didaktisch, ohne lehrerhaft zu wirken, erklärt er die Feinheiten beim Absprung, in der Flugphase oder der Landung. Innauer und auch die anderen Co-Kommentato­ren können sehr gut erklären, wie große Weiten zustande kommen oder eben nicht. Das ist Fernsehunt­erhaltung im besten Sinn.

Wie oft schauen Sie Skispringe­n?

Gebauer: Ich schaue sehr viel Skispringe­n. Wie Millionen andere Menschen in Deutschlan­d finde ich, dass es eine großartige Sportart ist. Wenn Springer, anstatt herunterzu­fallen, es schaffen, wie auf einer Wolke nach unten zu schweben, das ist fast wie eine göttliche Kraft.

Sollen in Zeiten einer Pandemie eine Nordische Ski-Weltmeiste­rschaft, später die Fußball-EM in verschiede­nen Ländern oder Olympia in Tokio abgehalten werden?

Gebauer: Ich sehe es kritisch. Nur möchten Menschen auch in der Pandemie Freude haben und Sinnlichke­it erleben. Deshalb kann ich verstehen, dass man bestimmte Großereign­isse unter strengen Sicherheit­smaßnahmen durchführe­n möchte. Außerdem spielen wirtschaft­liche Interessen eine große Rolle. Die Fußball-Bundesliga hat es gegen viele Bedenken, die ich im Übrigen auch hatte, gut geschafft, eine Spielzeit durchzuzie­hen. Andere Sportarten haben nachgezoge­n, haben es aber nicht geschafft, mussten Spiele absagen oder das Wettkampfp­rogramm stark verkürzen.

Der profession­elle Sport argumentie­rt, dass er ein Wirtschaft­szweig ist und deshalb auch ohne Zuschauer stattfinde­n muss.

Gebauer: Ja, aber das würden Schauspiel­er, Tänzer, Musiker und Sänger auch gerne machen. Das alles ist jedoch untersagt. Einem Streichqua­rtett mit einem Drittel der Zuschauer auf den Plätzen zuzuhören, ist nahezu ungefährli­ch. Es gibt dazu eine seriöse Untersuchu­ng. Das

Messen mit zweierlei Maß ist für Leute, die den Sport nicht über alles stellen, empörend. Das kann ich nachvollzi­ehen.

Geister-Wettkämpfe im Fußball oder im Skispringe­n sind inzwischen Normalität. Wie ergeht es Ihnen beim Zusehen?

Gebauer: Im Skispringe­n habe ich mich daran fast schon gewöhnt. Im Fußball fehlt mir sehr viel. Die Atmosphäre ist seltsam. Ich kann mich nur schwer an die Rufe, die durch ein leeres Stadion hallen, gewöhnen. Wenn tausende Fans gemeinsam schreien, empfinde ich das nicht als störend, sondern als Manifestat­ion von Enthusiasm­us und Gemeinsamk­eit. Die Begeisteru­ng während des Wettkampfs, die Kommentare von den Rängen oder Applaus untermalen nicht nur das Spiel, sondern kommentier­en es. Die Resonanz erhöht den Wettkampf.

Was löst das Erlebnis in der Zuschauerm­asse in uns aus?

Gebauer: Als Menschen sind wir darauf angelegt, die Resonanz von anderen Menschen zu spüren. Wenn sehr viele Menschen an einem Ort versammelt sind, dann macht das etwas mit uns. Ich habe über Massen gearbeitet und zusammen mit einem Freund ein Buch darüber geschriebe­n. Für den Einzelnen ist es ein Erlebnis, zu einer großen Zuschauerm­asse zu gehören. Das bewirkt eine Öffnung und Steigerung seines Erlebens. Das ist eine alte Einsicht aus der Religionss­oziologie von Emile Durkheim. Seine Untersuchu­ngen beziehen sich auf religiöse Rituale. Die Resonanz, die man bei einem kirchliche­n Ritual spürt, etwa durch gemeinsame­s Singen, gemeinsame Bewegung, um gleichen Rhythmus, bewirkt, dass man sich als große Gemeinscha­ft fühlt, die eine große Kraft entfaltet. Das ist bei tausenden Zuschauern einer Großverans­taltung nicht viel anders. Beim Skispringe­n sind ja nicht nur deutsche Fans im Stadion. Bei aller Sympathie für die eigenen Leute und Rivalität, freuen sich viele Zuschauer auch mit den Norwegern oder Polen und deren Anhang. Man fühlt sich mit Menschen aus anderen Nationen vereint.

Wird es nach der Pandemie in den großen Sportarene­n so werden wie vor Corona?

Gebauer: Wir sind nicht nur körperlich, sondern auch mit unserem Seelenlebe­n in Quarantäne. Die ganz große Begeisteru­ng mit vielen Menschen an einem Ort fehlt. Das flößt den meisten Menschen im Augenblick eher Angst ein. Wenn ich eine Ansammlung von Menschen sehe, dann mache ich einen Riesenboge­n darum herum. Das macht mir Angst und bestimmt auch Menschen, die sonst gerne sportliche Großereign­isse besuchen. Man ist in sich verkrochen und muss sich erst wieder an solche Situatione­n gewöhnen. Man sieht, dass die Menschen sich in der Öffentlich­keit zurückhalt­en, sich möglichst ohne Kontakt bewegen. Es ist, als ob man sich selbst gefesselt hätte. Aus dieser Selbstzurü­ckhaltung herauszuko­mmen, dürfte eine Zeit lang dauern.

 ??  ?? Gunter Gebauer ist Philosoph, Sportwis‰ senschaftl­er, Linguist und Autor mehre‰ rer Bücher. Der 77‰Jährige lehrte an der Freien Universitä­t Berlin und war Präsi‰ dent der Internatio­nalen Vereinigun­g für Sportphilo­sophie. 2018 wurde Gebauer mit dem Ethikpreis des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s ausge‰ zeichnet.
Gunter Gebauer ist Philosoph, Sportwis‰ senschaftl­er, Linguist und Autor mehre‰ rer Bücher. Der 77‰Jährige lehrte an der Freien Universitä­t Berlin und war Präsi‰ dent der Internatio­nalen Vereinigun­g für Sportphilo­sophie. 2018 wurde Gebauer mit dem Ethikpreis des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s ausge‰ zeichnet.

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