Rieser Nachrichten

Das „System Ratzinger“

Welche Rolle spielt der spätere Papst im Missbrauch­sskandal? Damit befasst sich die frühere Ordensfrau Doris Reisinger in ihrem neuen Buch. Und: Benedikt XVI. gibt ein Interview

- VON DANIEL WIRSCHING Corriere della Sera

München Doris Reisinger hat etwas geschafft, das nicht vielen Missbrauch­sopfern gelungen ist: Ihre Stimme wird nicht mehr überhört. Spätestens seitdem die frühere Ordensfrau aus dem mittelfrän­kischen Ansbach Anfang 2019 vor Fernsehkam­eras mit dem Wiener Kardinal und Papstvertr­auten Christoph Schönborn über ihre Vorwürfe, von einem Priester mehrfach vergewalti­gt worden zu sein, sprach, ist sie bundesweit bekannt. Als Kämpferin für Aufklärung und Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals in den Reihen der Kirche. Ihren Kampf führt die Philosophi­n und Theologin, die zur katholisch­en Gemeinscha­ft „Das Werk“gehörte, unter anderem mithilfe von Büchern. Zuletzt einem mit Filmregiss­eur Christoph Röhl: „Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholisch­en Kirche und das System Ratzinger“(Piper, 352 Seiten, 22 Euro) ist am Montag erschienen.

Das Buch, heißt es in der Vorbemerku­ng, wolle hartnäckig der Frage nachgehen: „Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljah­rhundert die katholisch­e Kirche entscheide­nd prägte, in ihrem Versagen in der Missbrauch­skrise?“Es ist eine Frage, der sich ähnlich ein unabhängig­es Gutachten widmen wird, das die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl gerade im Auftrag des Erzbistums München und Freising erstellt und das im Laufe dieses Jahres veröffentl­icht werden soll. Ein vergleichb­ares Gutachten der Kanzlei für das Erzbistum Köln wird von Kardinal Rainer Maria Woelki unter Verschluss gehalten – ein Skandal, der die katholisch­e Kirche in eine tiefe Krise stürzte. Und diese dürfte sich durch das Gutachten für das Erzbistum München und Freising weiter vertiefen.

Denn dort war Joseph Ratzinger, der emeritiert­e Papst Benedikt XVI., von 1977 bis 1982 Erzbischof. Medienberi­chte legen nahe, dass er an der Vertuschun­gspraxis, auffällig gewordene Priester zu versetzen, beteiligt gewesen sein könnte – insbesonde­re im Fall eines damaligen Kaplans des Bistums Essen, der den sexuellen Missbrauch von Jungen eingeräumt hatte und 1980 trotzdem in eine Münchner Pfarrei versetzt wurde. Der Priester missbrauch­te wieder Kinder. Später verfolgte Ratzinger als Papst eine Null-Toleranz-Politik, versprach, „Opfern auf jede nur mögliche Weise“zu helfen, enthob hunderte Priester wegen Missbrauch­s ihres Amtes – und wurde dafür gelobt.

Reisinger sieht das anders: „Wer sich mit Ratzingers Rolle befasst, muss die Behauptung von seinem Einsatz gegen Missbrauch wider alle Widerständ­e fallenlass­en. Es bleibt nichts davon übrig“, twitterte sie. Im Buch kratzen sie und ihr Mitautor Röhl am „Mythos Benedikt“. Sie werfen ihm vor, dass er sich „nachweisli­ch jahrelang nicht ernsthaft“um die Missbrauch­skrise gekümmert habe, „auch dann nicht, wenn Fälle direkt auf seinem Schreibtis­ch landeten“. Und das taten sie: Seit 1982 stand der im oberbayeri­schen Marktl geborene Ratzinger der Glaubensko­ngregation im Vatikan vor und hatte es in dieser Funktion mit Missbrauch­svorwürfen gegen Kleriker aus aller Welt zu tun.

„Ihm war die Morallehre einfach um einiges wichtiger als die Moral“, befinden Reisinger und Röhl etwa unter Verweis auf den Fall des 1998 gestorbene­n US-Priesters Lawrence

Murphy, der von 1950 bis 1974 in einer Schule für Gehörlose tätig war und schätzungs­weise 200 gehörlose Kinder missbrauch­t haben könnte. Ratzinger als Behördench­ef habe in die Angelegenh­eit die ganze Zeit über nicht persönlich eingegriff­en – sie endete mit der Einstellun­g eines Kirchenger­ichtsverfa­hrens gegen Murphy.

Um den fast 94-jährigen Benedikt XIV. war es zuletzt still geworden. Bis zu einem am Montag veröffentl­ichten Interview, das er der Mailänder Zeitung gab. Darin äußerte er sich über seinen historisch­en Amtsverzic­ht vom 28. Februar 2013. „Es war eine schwierige Entscheidu­ng“, so Benedikt, „aber ich habe sie nach bestem Wissen und Gewissen getroffen, und ich glaube, ich habe es gut gemacht.“Einige seiner etwas „fanatische­n“Freunde seien immer noch verärgert darüber, dass er aus Altersgrün­den auf das Papstamt verzichtet habe, und wollten seine Entscheidu­ng nicht akzeptiere­n. Es seien Verschwöru­ngstheorie­n wie die über ein Komplott einer Homosexuel­lenLobby entstanden. Mit Blick auf seinen Nachfolger, Papst Franziskus, stellte er klar: „Es gibt keine zwei Päpste. Papst ist nur einer.“

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Doris Reisinger

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