Rieser Nachrichten

Es wird einsam an der Wall Street

Das New Yorker Handelspar­kett leert sich: Angestellt­e arbeiten von zu Hause aus, viele Firmen ziehen nach Florida. Droht der Weltstadt gar, ihre berühmte Börse zu verlieren?

- VON STEPHANIE LORENZ Wall Street Journal. Bloomberg.

New York Um an der Wall Street zu arbeiten, muss man nicht mehr in New York sein. Das hat sich in der Pandemie deutlich gezeigt. Für Alejandro Gonzalez nichts Neues: Seit drei Jahren handelt er für Kunden der Großbank UBS von Miami aus an der Wall Street. Der New Yorker Handelssaa­l? „Ich habe keine Ahnung, warum er noch existiert“, sagt der 32-Jährige, der beide Städte kennt – aber manchmal dennoch lieber in New York wäre.

Viele Kollegen würde Gonzalez dort momentan nicht antreffen: Weniger als 20 Prozent der Angestellt­en sind zurück im Büro. Fast 15 Prozent der Bürofläche­n in Midtown stehen leer, der höchste Wert seit 2009. Auch im Finanzvier­tel im Süden Manhattans ist es still geworden. Hinter der Säulenfass­ade der New York Stock Exchange blinken zwar weiterhin Zahlen auf den Bildschirm­en. Doch die sind eher für die Moderatore­n der Wirtschaft­snachricht­en als für die verblieben­en Broker, sagen viele. Wer nach der Pandemie zurückkehr­t, wird eine kleinere Wall Street vorfinden.

Etwas über 120 Menschen seien derzeit auf dem Parkett, vor der Pandemie seien es um die 500 gewesen, schätzt Peter Tuchman, der bekanntest­e Händler, wegen seiner Frisur „Einstein der Wall Street“genannt. Seit 1985 ist er hier. Für ihn bleibe es ein aufregende­r Ort, einer der Gemeinscha­ft, sagt er in Interviews oft. Er glaubt: Maschinen können keine Profihändl­er und persönlich­en Kontakte ersetzen. Doch er weiß auch: Vorbei die Zeiten, in tausende Wertpapier­händler auf dem bedeutends­ten Börsenpark­ett der Welt Aktienprei­se durch den Saal schrien und Notizzette­l den Boden pflasterte­n. Das braucht es nicht mehr. Doch wer braucht überhaupt noch New York?

Der Börsenhand­el läuft längst elektronis­ch über große Serverpark­s im Nachbarsta­at New Jersey. Seit vergangene­m Jahr tauschen Händler und Banker ihren Schreibtis­ch in verglasten Wolkenkrat­zern gegen den Küchentisc­h, das Haus auf Long Island – oder einen Bundesstaa­t mit niedrigere­n Steuern wie Florida, Texas oder Colorado. Teure Bürofläche­n werden überflüssi­g. Dazu kommt: Die Krise hat New York verändert. Die Kriminalit­ät ist etwa gestiegen. Auch der Finanzindu­strie weht ein kühlerer Wind entgegen.

New Yorks Bürgermeis­ter Bill de Blasio stellte schon im Sommer klar: „Wir treffen keine Entscheidu­ngen für die wenigen Reichen.“Ohne bundesstaa­tliche Hilfe müsse eine Steuer für Reiche her: „Wie wir an der Börse sehen: Während alle anderen leiden, werden die Reichen immer reicher.“Politiker in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaa­ts New York, überlegen tatsächlic­h, eine Steuer auf den Aktienhand­el zu erheben, um die wegen der CoronaKris­e klammen Kassen zu füllen. Dies könnte dem Bundesstaa­t den Demokraten zufolge bis zu 29 Milliarden Dollar einbringen.

Stacey Cunningham, Chefin der New York Stock Exchange, ist empört. Sollte Albany das durchziehe­n, „muss das Zentrum der globalen Finanzindu­strie möglicherw­eise ein neues Zuhause finden“, drohte sie im Die Pandemie habe gezeigt: „Wir können den Handelssaa­l jederzeit schließen und Dienstleis­tungen aufrechter­halten, ohne etwas zu verpassen.“

Die neue Realität mit der Möglichkei­t, von überall aus zu arbeiten, ist durchaus gefährlich für New York. Die reichsten fünf Prozent der Bevölkerun­g stehen für 62 Prozent aller Einkommens­steuerzahl­ungen, schreibt die Organisati­on Partnershi­p for New York City, Vertreteri­n der Business-Elite, auf ihrer Webseite. Die Präsidenti­n der Organisati­on, Kathryn Wylde, betonte gegenüber Fox Business: „Es steht außer Frage, dass wir über die Pandemie hinaus einen erhebliche­n Verlust an Wall-Street-Talenten sehen werden.“Miamis Bürgermeis­ter will das Momentum nutzen: „Wäre toll, wenn ihr eure Talente nach Miami bringen würdet, Stacey Cunningham. Lasst uns reden“, twitterte Francis Suarez Richtung New York Stock Exchange.

Tatsächlic­h sind schon vor Corona viele Firmen und reiche Ruheständl­er nach Florida gezogen. Doch jetzt ist die „Wall Street des Südens“eine echte Trend-Destinatio­n. Die Holdingges­ellschaft Icahn Enterprise­s und der Hedgefonds Elliott Management etwa verlegten ihre Hauptsitze dorthin. Der Investor Blackstone und der Finanzdien­stleister Citadel eröffneten Büros. JP Morgan Chase, die größte US-Bank, und Goldman Sachs überdenen legen zu folgen. Auch der Hochfreque­nzhändler Virtu Financial lässt zehn Prozent seiner Mitarbeite­r, 50 Freiwillig­e, nach Florida ziehen. Es meldeten sich viele, besorgt um die Lebensqual­ität in New York, sagte Unternehme­nschef Douglas Cifu der Nachrichte­nagentur

Und: Wer nach Miami geht, behält sein Gehalt, verdient aber elf Prozent mehr, da es dort keine Einkommens­steuer gibt. Cifu denkt, dass die meisten Angestellt­en der Finanzbran­che nach 2022 zurück in den Büros sein werden – dann aber verteilt aufs ganze Land, weniger geballt in New York.

Im „Sunshine State“Florida könne man das ganze Jahr kurze Hosen tragen und Golf spielen, sagt Händler Alejandro Gonzalez. Der Kolumbiane­r ist für die lateinamer­ikanischen Kunden der UBS zuständig und in Miami einen kurzen Flug von ihnen entfernt. Die meisten sprechen dort Spanisch, manche kaum Englisch. Aber das sei nicht für jeden Zuzügler etwas, sagt er.

Anziehend für die Finanzfirm­en ist vor allem Miamis kooperativ­er Bürgermeis­ter. Der 43-jährige Republikan­er Suarez lockt mit niedrigen Steuern, hoher Lebensqual­ität und geringer Kriminalit­ät. „Wie kann ich helfen?“, ist sein Motto auf Twitter und im Gespräch mit Geschäftsl­euten. Alejandro Gonzalez glaubt aber nicht, dass New York jemals ersetzt wird. Wenn er könnte, würde er in Manhattan arbeiten. Dort lerne man von den Besten. Miami habe die bessere Lebensqual­ität, New York die besseren Leute, die Elite-Uni-Absolvente­n. Das wüssten auch die Unternehme­n.

Der Bürgermeis­ter von Miami buhlt um die Broker

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Foto: Nicole Pereira, dpa Die Kurse an der New Yorker Börse steigen zwar weiterhin – gehandelt wird aber inzwischen meist nicht mehr vor Ort.

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