Rieser Nachrichten

Ist Bayern wirklich bereit für Öffnungen?

Selbst Ministerpr­äsident Markus Söder will inzwischen Corona-Lockerunge­n. Warum Mediziner dennoch damit lieber bis zum 1. April warten würden

- VON MARKUS BÄR

München/Mindelheim Die Menschen sind der Coronamaßn­ahmen müde. Im ganzen Land spürt man eine zunehmende Ungeduld, auch weil jeder weiß, dass die wirtschaft­lichen Schäden mit jeder Woche eines sich fortsetzen­den Lockdowns immer schlimmer werden. Und das wissen auch viele Menschen, die eigentlich Befürworte­r eines vorsichtig­en Kurses sind. Selbst Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder, der sich lange als eine Art Oberwärter in der Republik gerierte, schlägt allmählich lockere Töne an. Insofern ist denkbar, dass beim Ministerpr­äsidenteng­ipfel am Mittwoch Lockerunge­n beschlosse­n werden. Aber abseits der politische­n Dimension des Themas: Sind Lockerunge­n – rein aus epidemiolo­gischer Sicht – im Freistaat überhaupt sinnvoll?

Über 70000 Menschen sind inzwischen in der Bundesrepu­blik im Zusammenha­ng mit Covid-19 gestorben. Und wie inzwischen aufgrund von Hunderten von Obduktione­n etwa an der Uniklinik Hamburg oder auch an der Uniklinik Augsburg bekannt wurde, sind die meisten an Covid-19 gestorben. Und nicht, weil sie zufällig auch Corona hatten.

12429 Corona-Tote waren es – Stand Dienstag – in Bayern. Damit gehört der Freistaat mit seinen 13,1 Millionen Einwohnern bis heute zu den besonders betroffene­n Bundesländ­ern. Zum Vergleich: In BadenWürtt­emberg waren es trotz ähnlicher Bevölkerun­gsgröße (11,1 Millionen Menschen) etwas über 8000 Tote, in Nordrhein-Westfalen mit knapp 18 Millionen Einwohnern etwas über 13 000.

Professor Clemens Wendtner von der München Klinik in Schwabing, einem akademisch­en Lehrkranke­nhaus der Universitä­t München, ist der erste Arzt in Deutschlan­d, der überhaupt Menschen mit Corona behandelte. In der Klinik sind bis heute rund 2300 Covid-19-Patienten betreut worden. Und Wendtner rät dringend von einer schnellen Öffnung ab. „Wir freuen uns zwar, dass es momentan etwas ruhiger zugeht.“Doch das ist eher eine Art Ruhe vor dem Sturm. „Wir haben gelernt, die Latenzzeit­en von Covid besser einzuschät­zen.“Die dritte Welle sei unzweifelh­aft im Gange.

„Wir wissen, dass die Latenzzeit, also die Verzögerun­g bis zum Eintreffen einer Infektions­welle, auf unseren Normalstat­ionen etwa zwei Wochen beträgt. Und auf den Intensivst­ationen vier Wochen.“Insofern werde das volle Bild der dritten Welle klinisch erst Mitte bis Ende März sichtbar werden. Und so lange sollte seiner Meinung nach noch von zu raschen Öffnungen abgesehen werden. „Auch, wenn wir alle uns solche Öffnungen wünschen – ich inklusive. Aber aus medizinisc­her Sicht muss ich abraten.“Allerdings sei es auch wichtig, den Menschen in Bayern eine Zielperspe­ktive aufzuzeige­n, weil sonst die Bereitscha­ft, sich an die Regeln zu halten, immer brüchiger werde. „Und darum halte ich – aus medizinisc­her Sicht – Öffnungen ab April für sinnvoll.“Bis dahin gebe es immer mehr Impfstoff (der dann rasch in den Hausarztpr­axen verimpft werden kann) und immer mehr Tests – auch AntigenSch­nelltests – stünden zur Verfügung. Dann lasse sich die weitere Entwicklun­g besser im Zaum halten.

Wendtner unterstütz­t aber auch die Idee Söders, stark betroffene Hotspots wie Tirschenre­uth etwa mit größeren Impfstoffl­ieferungen zu stärken. Während beispielsw­eise Kaufbeuren, das derzeit äußerst niedrige Inzidenzwe­rte hat, vielleicht schon bald Außengastr­onomie anbieten könnte. Dass es derzeit entlang der tschechisc­hen Grenze hohe Werte gebe, liege an den Inzidenzen in Tschechien, die bis zu 1600 Fällen in den vergangene­n sieben Tagen pro 100000 Einwohner aufragten.

Die besseren Werte entlang der Tiroler Grenze im Süden Bayerns sind laut Wendtner hingegen mit den – im Vergleich zu Tschechien – in Tirol deutlichen niedrigere­n Werten zu erklären. Wendtner rät auch jungen Menschen, sich impfen zu lassen. Immer mehr werde deutlich, dass die Langzeitsc­häden von Covid („Long Covid“) bei Jüngeren immens sein können. „Ich weiß von Ärzten, die nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen können“, betont der Chefarzt.

Auch Dr. Manfred Nuscheler ist Chefarzt, er leitet die Abteilung für Anästhesie und Intensivme­dizin an der Klinik Mindelheim. „Wir sind ein eher kleineres Krankenhau­s, hatten aber in Spitzenzei­ten von unseren 150 Betten auf den Normalstat­ionen allein 38 mit Covid-Patienten belegt.“Die zweite Welle sei für das Personal enorm belastend gewesen. „Darum sehen wir die Öffnungsde­batte mit gemischten Gefühlen. Ehe man sich versieht, ist man in einem exponentie­llen Wachstum und verspielt die Arbeit von vielen Wochen.“Darum rät er von Öffnungen vor dem 1. April dringend ab.

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