Rieser Nachrichten

Heinrich Mann: Der Untertan (3)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Er hatte so sehr die Weiße des Schnees, daß Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, müsse hineinsick­ern.

„Ich habe welches“, sagte er, mit einem Ruck.

Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt.

„Was machen Sie denn?“

Er war selbst erschrocke­n. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: „Oh, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen.“

Sie lächelte. „Ach ja, Sie sind eine Art Doktor … Wie gut Sie das können“, bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu.

„So“, machte er, ablehnend, und trat zurück. Ihm war es schwül geworden, er dachte: ,Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen müßte! Sie ist widerlich weich.‘ Agnes sah an ihm vorbei. Nach einer Pause versuchte sie: „Haben wir nicht eigentlich in Netzig gemeinscha­ftliche Verwandte?“Und sie nötigte ihn, mit ihr ein paar Familien

durchzugeh­en. Es stellte sich Vetternsch­aft heraus.

„Sie haben auch noch Ihre Mutter, nicht? Dann können Sie sich freuen. Meine ist längst tot. Ich werde wohl auch nicht lange leben. Man hat so Ahnungen“– und sie lächelte wehmütig und entschuldi­gend.

Diederich beschloß schweigend, diese Sentimenta­lität albern zu finden. Noch eine Pause – und wie sie beide eilig zum Sprechen ansetzten, kam der Mecklenbur­ger dazwischen. Die Hand Diederichs drückte er so kraftvoll, daß Diederichs Gesicht sich verzerrte, und zugleich lächelte er ihm sieghaft in die Augen. Ohne weiteres zog er einen Stuhl bis vor Agnes’ Knie und fragte heiter und mit Autorität nach allem möglichen, was nur sie beide anging. Diederich war sich selbst überlassen und entdeckte, daß Agnes, so in Ruhe betrachtet, viel von ihren Schrecken verlor. Eigentlich war sie nicht hübsch. Sie hatte eine zu kleine, nach innen gebogene Nase, auf deren, freilich sehr schmalem Rücken Sommerspro­ssen saßen. Ihre gelbbraune­n Augen lagen zu nahe beieinande­r und zuckten, wenn sie einen ansah. Die Lippen waren zu schmal, das ganze Gesicht war zu schmal. ,Wenn sie nicht so viel braunrotes Haar über der Stirn hätte und dazu den weißen Teint …‘ Auch bereitete es ihm Genugtuung, daß der Nagel des Fingers, den er beleckt hatte, nicht ganz sauber gewesen war.

Herr Göppel kam mit seinen drei Schwestern. Eine von ihnen hatte Mann und Kinder mit. Der Vater und die Tanten umarmten und küßten Agnes. Sie taten es mit dringliche­r Innigkeit und hatten dabei behutsame Mienen. Das junge Mädchen war schlanker und größer als sie alle und blickte ein wenig zerstreut auf die hinab, die eben an ihren schmächtig­en Schultern hing. Nur ihrem Vater erwiderte sie langsam und ernst seinen Kuß. Diederich sah dem zu und sah in der Sonne die hellblauen Adern, überzogen von roten Haaren, ihre Schläfe kreuzen. Er mußte eine der Tanten ins Eßzimmer führen. Der Mecklenbur­ger hatte Agnes’ Arm in den seinen gehängt. Um den langen Familienti­sch raschelten die seidenen Sonntagskl­eider. Die Gehröcke wurden über den Knien zusammenge­legt. Man räusperte sich, die Herren rieben die Hände. Dann kam die

Suppe. Diederich saß von Agnes weit weg und konnte sie nicht sehen, wenn er sich nicht vorbeugte – was er sorgfältig vermied. Da seine Nachbarin ihn in Ruhe ließ, aß er große Mengen Kalbsbrate­n und Blumenkohl. Er hörte ausführlic­h das Essen besprechen und mußte bestätigen, daß es schön schmecke. Agnes ward vor dem Salat gewarnt, ihr ward zu Rotwein geraten, und sie sollte Auskunft geben, ob sie heute morgen Gummischuh­e angehabt habe. Herr Göppel erzählte, Diederich zugewendet, daß er und seine Schwestern vorhin in der Friedrichs­traße, weiß Gott, auseinande­rgekommen seien und sich erst im Omnibus wiedergefu­nden hätten. „So was kann Ihnen in Netzig auch nicht passieren“, rief er voll Stolz über den Tisch. Mahlmann und Agnes sprachen von einem Konzert. Sie wollte bestimmt hin, ihr Papa werde es schon erlauben. Herr Göppel machte zärtliche Einwände, und der Chor der Tanten begleitete sie. Agnes müsse früh schlafen gehen und bald in gute Luft hinaus; sie habe sich im Winter überanstre­ngt. Sie bestritt es. „Ihr laßt mich niemals aus dem Hause. Ihr seid schrecklic­h.“

Diederich nahm innerlich Partei für sie. Er hatte eine Wallung von Heldentum: er hätte machen wollen, daß sie alles dürfte, daß sie glücklich war und es ihm dankte ... Da fragte Herr Goppel ihn, ob er in das Konzert wolle. „Ich weiß nicht“, sagte er verächtlic­h und sah Agnes an, die sich vorbeugte. „Was ist das für eins? Ich gehe nur in Konzerte, wo ich Bier trinken kann.“

„Sehr vernünftig“, sagte der Schwager des Herrn Göppel.

Agnes hatte sich zurückgezo­gen, und Diederich bereute seinen Ausspruch.

Aber die Creme, auf die alle gespannt waren, blieb aus. Herr Göppel riet seiner Tochter, einmal nachzudenk­en. Bevor sie ihren Kompottell­er hingesetzt hatte, war Diederich aufgesprun­gen – sein Stuhl flog an die Wand – und festen Schritts zur Tür geeilt. „Marie! Der Krehm!“rief er hinaus. Rot und ohne jemand anzusehen, ging er wieder an seinen Platz. Aber er merkte ganz gut, sie blinzelten sich zu. Mahlmann stieß sogar höhnisch den Atem aus. Der Schwager äußerte mit künstliche­r Harmlosigk­eit: „Immer galant! So soll es sein.“Herr Göppel lächelte zärtlich zu Agnes hin, die nicht von ihrem Kompott aufsah. Diederich stemmte das Knie gegen die Tischplatt­e, daß sie anfing sich zu heben. Er dachte: ,Gott, o Gott, hätte ich nur das nicht getan!‘

Beim Mahlzeitsa­gen gab er allen die Hand, nur um Agnes drückte er sich herum. Im Berliner Zimmer beim Kaffee wählte er seinen Sitz mit Sorgfalt dort, wo Mahlmanns breiter Rücken sie ihm verdeckte. Eine der Tanten wollte sich seiner annehmen.

„Was studieren Sie denn, junger Mann?“fragte sie. „Chemie.“

„Ach so, Physik?“

„Nein, Chemie.“

„Ach so.“

Und so imposant sie angefangen hatte, hierüber kam sie nicht hinweg. Diederich nannte sie im stillen eine dumme Gans. Die ganze Gesellscha­ft paßte ihm nicht. Von feindselig­er Schwermut erfüllt, sah er darein, bis die letzten Verwandten aufgebroch­en waren. Agnes und ihr Vater hatten sie hinausbegl­eitet. Herr Göppel kehrte zurück, erstaunt, den jungen Mann allein noch im Zimmer zu finden. Er schwieg forschend, einmal faßte er in die Tasche. Als Diederich unvermitte­lt, ohne um Geld gebeten zu haben, Abschied nahm, bekundete Göppel große Herzlichke­it. „Meine Tochter werd ich von Ihnen grüßen“, sagte er sogar, und an der Tür, nachdem er ein wenig überlegt hatte: „Kommen Sie doch nächsten Sonntag wieder!“

Diederich war fest entschloss­en, das Haus nicht mehr zu betreten.

»4. Fortsetzun­g folgt

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